Nach einem Spiel wie gestern ist es für mich fast eine
Befreiung, dass ich noch ein gutes Stück mit dem Auto nach Hause zu fahren
habe. Schon auf dem Rückmarsch zum Auto nehmen der erste jähe Zorn und die Enttäuschung
meist eine andere Färbung an. Die erste
Luft ist in der nach-dem-Spiel-Diskussion abgelassen, fürs erste ist alles
geschwätzt. Es ist wie es ist. Je nach Situation wird aus
brennender Enttäuschung vielleicht Melancholie, aus Ärger Galgenhumor, aus
Frust müde Mattigkeit. Gestern, als ich
nach dem Spiel zum Auto zurückgetappert
bin, ist nichts abgeklungen, sondern es
hat sich von Schritt zu Schritt verstärkt. Eben im Stadion war es stockfinster, Regen, kalt. Jetzt strahlt die Sonne vom
blitzeblauen Himmel. Schääfchenwolken. Bin ich müde? Melancholisch? Nix da – ich bin
nur eins: Stinkwütend.
Mal sehen, nach welcher Musik mir jetzt der Sinn steht. Ich wühle in
der CD-Kiste auf dem Rücksitz, erwische
Rio Reiser - yep – und fahre los „Alles Lüge!“ singt Rio auf Höhe Sachsenhausen
in voller Lautstärke und „Alles Lüge!“ singe, schreie ich in voller Stärke mit und erinnere mich dankenswerterweise daran, dass die
Erde um die Sonne und nicht um einen Fußball kreist. „Das alles und noch viel
meeeeeeeeeeeeehr, würd ich machen, wenn ich König von Deutschland wär“, schreien Rio und ich – inzwischen am
Frankfurter Kreuz - gemeinsam in die
Welt und ich fuchtele dabei mit der Faust. Bei “Doch es tut nicht mehr weh, alles bleibt stumm und kein Sturm kommt auf, wenn
ich dich seh…“ stehen Rio und ich an der Ampel in Mainz-Hechtsheim. Das ist
- wie alles – eine Lüge, denn in mir ist nichts stumm und es stürmt
weiter. Wahr jedoch ist: Als ich vor
unserer Haustür stehe, fühle ich mich besser.
Stunden später
Abends, spät abends, und nach einigen kühlen und belebenden Getränken bin ich so weit,
dass ich das, was ich beim Spiel gegen Hannover im Stadion gesehen habe, in Worte fassen kann:
Es ist, als ob ein Orchester ein Konzert zu geben hat, aber die
Musiker haben keine Ahnung, welches Stück sie spielen sollen. Manch einer hat
eine Melodie im Kopf – im einfachsten
Sinn vielleicht so etwas wie: Rausgehen
und Fußball spielen -, aber keiner kennt die Noten. Andere haben ihre Stärken ohnehin nur in den
brummenden Tönen. Vom Dirigent ist nichts zu sehen. Die Partitur ist verloren gegangen und so
versucht jeder auf seinem Instrument irgendeinen Ton anzuschlagen und hofft,
dass er ihn trifft oder zumindest bei einem anderen einen Widerhall findet. Leider spielt jeder in einer anderen Tonlage.
Manche können keine Noten, andere haben sogar ihre Instrumente verwechselt. Sonny Kittel zum Beispiel ist als Sologeiger besetzt, wäre
aber viel besser auf der linken Seite im Ensemble aufgehoben. Stefan Aigner hört
die Musik nur von fern. Er hat die Hoffnung aufgegeben, dass ihn ein Ton
erreicht und versucht sich als Stehgeiger (hat er in der ersten Halbzeit überhaupt
einen einzigen Ball bekommen? Hat er?) Alex Meier hat sein Cello gleich ganz zu Hause
gelassen und versteckt sich lieber im
Orchestergraben. Haris Seferovic hat seine Trompete zwar dabei, stößt aber aus Versehen immer ins
gleiche Horn. Makoto Hasebe versucht, die Töne, die zu ihm durchdringen,
aufzunehmen und probiert immer mal wieder, mit Stefan, Haris, Sonny oder Alex ein Duett,
Trio oder Quartett zusammen zu bekommen. (Gab es überhaupt einen einzigen langen oder kurzen Offensiv-Pass, der nicht direkt beim Gegner gelandet ist? Gab es?) Bastian Oczipka grübelt darüber nach, wie das
Stück hieß, bei dem er früher immer mit seinem Klarinetten-Solo glänzen konnte,
kommt aber nicht mehr auf den Namen. Kevin Trapp hat den Überblick über seine
Schlaginstrumente verloren und drischt nur noch auf die Pauke (Gab es einen, nur einen einzigen Abschlag der
beim eigenen Mann angekommen ist? Einen einzigen?) Takashi Inui hat seine Harfe dabei und
versucht ihr, im allgemeinen Gewoge, ein paar zarte Töne zu entlocken. Timothy
Chandler will lieber nichts falsch machen und versucht den einen, immer
gleichen Ton zu halten, was ihm auch gelingt (du liebes bisschen: Ein Pass aus
drei Metern zum direkt vor ihm stehenden Gegner, das muss man auch erst mal
hinbekommen). Carlos Zambrano spielt sowieso immer sein eigenes Stück und setzt
kräftige Akkorde. Marc Stendera scheint
eine Seite der Partitur gefunden zu haben, aber er setzt an der verkehrten
Stelle ein. Alexander Madlung weiß als
alter Haudegen, dass es am besten ist, sich nicht beirren zu lassen, beherrscht
auf dem Kontrabass aber nur die einfachen Töne. Da kommt auch noch Lucas Piazon, kann aber mit
seiner Ukulele inmitten der allgemeinen Kakophonie auch nichts ausrichten.
All das erinnert mich
an eine Anekdote, die ich mal irgendwo gelesen
habe:
Für die kommende Woche ist bei den Wiener Philharmonikern ein Konzert mit einem berühmten Gastdirigenten geplant. Der erste Geiger wird von einem Journalisten zu dem anstehenden Ereignis befragt: „Hat der Maestro Sie schon
informiert, welches Stück er mit Ihnen einstudieren wird?“
Der Geiger antwortet: „ Keine Ahnung, was er spielt - wir spielen die Eroica.“
Guter Tipp: Falls unsere Mannschaft die Eroica drauf hat,
sollte sie es vielleicht mal damit probieren.
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Glückliche Fans nach dem Spiel. Mehr, wir wollen mehr! |
"Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch." Stimmt.
AntwortenLöschenSchöne Vergleiche, Kerstin!
Und durchaus möglich, dass sich Orchester und Dirigent nicht auf ein Stück einigen können. Wie es möglich ist, dass wir gar kein Orchester (mehr) haben. Und was, wenn es im Orchestergraben bereits zu Kämpfen gekommen ist? Die sehen dann allerdings nur die deutlich, die den Einblick haben. Wir auf den billigen Plätzen können dagegen nur vermuten, was sich dort abspielt.
Ja, die Vergleiche passen, finde ich auch. Wobei sich, gewichtiger Unterschied wiederum, ein philharmonisches Orchester nur selten mit einem gegnerischen philharmonischen Orchester auseinanderzusetzen hat (glücklicherweise : - ) Aber die gruppendynamischen Prozesse sind sehr ähnlich, bis hin zum komplexen und oft nicht unheiklen Verhältnis zwischen Team und Maestro. Gestern hatte man gar den Eindruck, die Mannschaft hätte den Anpfiff des Schiris als Kammerton a genommen und erstmal angefangen zu stimmen. Und damit nicht aufgehört, bis es eher schaurig als schön vorbei war. Übrigens, neben dem Dirigenten und quasi als Verbindungsmann zur Mannschaft gibts da noch den Konzertmeister. Wir sehen es ja nur von außen, aber irgendwie habe ich den Eindruck, wir haben einen solchen nur auf dem Papier, nicht aber auf und womöglich auch nicht neben der Bühne. So, es reicht. Nur eines noch: es gibt Niederlagen, die deutlich weniger melancholisch stimmen als dieses gestrige Unentschieden. Saludos - ak
AntwortenLöschenSchade, adlerkadabra, dass es schon gereicht hat. Ich hätte gern noch mehr gelesen. Doch zum einen soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist, und zum anderen hattest du das Wesentliche wohl schon gesagt. Und deinem Schlussakkord sind keine weitere Töne hinzuzufügen. Die wären ohnehin in Moll.
LöschenDer Konzertmeister ist abgängig, das sehe ich auch so. Orchestergrabenkriege? Möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Wenn schon kein Kammerton, dann pfeifen wir doch trotzdem - wie ich inständig hoffe - noch nicht auf dem letzten Loch.
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