Vor dem Spiel
Sonntag, 13. Juli, 20 Uhr 25 Uhr. Noch gut eine halbe Stunde bis zum Spiel. Ich
habe den ganzen Nachmittag gearbeitet und – ächz - vor dem PC gesessen - muss mir jetzt irgendwie
noch ein bisschen Bewegung verschaffen. Es ist schwül-warm, hat gerade
angefangen leicht zu regnen, egal, hole mein Fahrrad aus der Garage und radele
los. Die Welt liegt wie unter grauer Watte, Wolken ziehen. Die Straßen sind
leer. Bei der Abzweigung in die
Weinberge verschwindet gerade ein Pärchen Hand-in-Hand am Horizont, ein großer
schwarzer Hund galoppiert vor ihnen her. Die haben mit der Weltmeisterschaft
offensichtlich nichts am Hut. Wie stand
am Samstag in der TAZ: Das Problem ist nicht die WM, das „Problem sind die, die
nicht WM schauen“. Na, so richtig problematisch kann ich die Zwei nicht finden.
Ich radele durch die menschen- und autoleeren Straßen, spüre
den Regen auf meiner Haut, der Wind weht, es ist, als ob die Welt Pause macht. Vielleicht
steht sie auch einfach im Abseits? Eine kleine, graue Katze huscht geduckt über
die Straße. An vielen Fenstern flattern Deutschlandfahnen. Hier und da sind Girlanden oder Windfahnen an
Toren oder Türen befestigt. Bratwurstduft. Auf einem Gartengrundstück steht ein
dampfender Grill unter einer Plane, kein Mensch zu sehen, Fernsehgeräusche und
Stimmen aus dem Haus. Auf einem Balkon
steht ein Mann, raucht und zurrt die Schland-Fahne, die über dem Geländer hängt, noch
einmal fest.
Der Regen wird stärker, ziehe die Kapuze meiner Eintrachtregenjacke
fester über den Kopf, meine Beine sind
nass, es ist warm – Sommer. Fahre einen Bogen über einen Feldweg. Vor dem
Landgasthof am Ortsende, wo sonst am Wochenende Hochbetrieb herrscht, steht
heute nur ein einsamer Wagen mit Schweizer Kennzeichen. Mit Public Viewing wär
das nicht passiert. An der Selz entlang zurück ins Ort. Von einer überdachten Terrasse leuchtet ein
schwarzrotgoldener Sonnenschirm. Vier, fünf, sechs Menschen haben sich erwartungsvoll um einen
nach draußen geschobenen Flachbildschirm versammelt. Brüh im Glanze. Jetzt aber nix wie heim. Quiietsch. Und?
„Grade angepfiffen.“
Nach dem Spiel.
Es ist vollbracht. Weltmeister tatsächlich, sie haben es
geschafft, sie wollten es, unbedingt, haben alles dafür getan – während der
Zeit in Brasilien und heute im Spiel. Die Bilder, die jetzt über den Bildschirm
flimmern, entwickeln einen Sog, schreiben eigene Geschichten. Lionel Messi, der
fast wie in Trance die Stufen nach oben steigt, um den Pokal für den besten
Spieler des Turniers entgegen zu nehmen. Kein Zucken im Gesicht, er übersieht
die Hände, die sich ihm von allen Seiten entgegenstrecken. Die Mimik wie
erstarrt. Regungslos. Manuel Neuer, der aussieht wie eine Mischung aus einem
großen tapsigen Bär und einem kleinen Jungen. Poldi, der überall vorneweg
hüpft, sich mit Köln-Fahne fotografieren lässt. Der vom Spiel gezeichnete Bastian
Schweinsteiger lacht und lacht und lacht. Mats
Hummels liegt auf dem Rücken, ist ganz in sich gekehrt. Die Freude macht ihn still, fast ernst. Mesut Özil mit nacktem Oberkörper, wie in einem Tunnel, so als ob er gar nicht
mitbekommt, was da um ihn herum geschieht. André Schürrle, dessen Kopf nicht
breit genug zu sein scheint, für sein Lachen. Miro Klose – fast glaubt man zu
hören, wie er „Kerle, Kerle“ vor sich hinmurmelt. Den Kopf auf die Hände gestützt
lehnt er auf dem Siegerbalkon und blickt auf das Getümmel. Thomas Müller hüpft wie ein Kobald. Shkodran
Mustafi und Per Mertesacker tanzen fast selbstvergessen vor sich hin. Christoph Krämer, verdutzt.
Mario Götze, ganz allein, staunend, so als ob er innerlich den Kopf schüttelt.
Das Reus-Trikot bei der Pokalübergaben - eine wirklich feine Geste. Die beiden Jungs von Miro
Klose, die ihrem Papa wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Der kleine Podolski
im übergroßen Vier-Sterne-Shirt. Jeder, der vorbei kommt, wuschelt ihm kurz
über den Kopf. Feste, ganz, ganz feste Umarmungen. Bastian Schweinsteiger und
Jogi Löw. Mario Götze und Mats Hummels. Was ist das? Findet am Rande des
Spielfelds ein Casting zur nächsten Folge von Germanys next Topmodell statt?
Nein, es sind die Spielerfrauen, die Jogi Löw jetzt nacheinander umarmt. Alle in Jeans mit Deutschland-Trikot,
wunderbar aus der Reihe fällt die Freundin von Jerome Boateng, dunkelhaarig, im
schwarzen Kleid und ein bisschen mollig. Piff. Zisch. Spotz. Irgendjemand bei uns im
Ort veranstaltet ein kleines Feuerwerk. Dann ist es aus, aus, aus.
Drei weitere Findings nach dem Spiel sollten wir auf jeden
Fall noch festhalten:
„Diese WM gewinnt die Mannschaft mit dem intelligentesten
Trainer,“ hat Bastian Schweinsteiger auf der PK vor dem Spiel gegen Brasilien
gesagt. Das muss dann wohl also Jogi Löw sein.
Und noch einmal die TAZ, Ausgabe vom Montag: „Brasilien:
Jetzt wird wieder demonstriert. Die Fußball-Pleite habe die Menschen kritischer
gemacht, glauben Aktivisten.“ Deutschland hat also nicht nur Brasilien besiegt
und den WM-Titel geholt, sondern dadurch auch noch weltpolitisch die gute Sache befördert. Wenn jetzt nochmal einer was
gegen Schland sagt, wehe!
„Die Chance mit dem Kopf liegen lassen“ – wie das wohl geht?
So, und jetzt: Blick voraus auf die neue Saison:
Schuld, das Problem oder gar die Hölle, sind doch immer die anderen. Demnach also für die, die nicht schauen, die, die schauen, und für die, die schauen, die, die nicht schauen. Das ist einfach, das ist leicht. Noch einfacher und leichter haben es freilich die, die sich selbst genug sind. Vielleicht gehört das von dir erwähnte Pärchen mit Hund ja zu diesen Glücklichen. :-)
AntwortenLöschenDas Finale war spannend. Und hätte in jedem Fall einen verdienten Sieger gehabt. Mir war es aber sehr recht, dass am Ende die Mannschaft um Schweinsteiger den Pokal in Händen hielt. Du weißt ja: Ich hab's mit den Typen, die wie Boxer auf die Kutte kriegen, sich dennoch nicht unterkriegen lassen und immer wieder aufstehen.
Ja. Man muss der Chance, die mit dem Kopf liegen gelassen wird,wohl philosophisch zu Leibe rücken. Hier das Schaf, das noch zum Leithammel werden muss, dort die Chance, die selbiger Kopf vielleicht mathematischniederzuringen versucht, während am Himmel das Schaf gleich drei Körper hat, obwohl es eigentlich....args...nein, so geht es auch nicht.
AntwortenLöschenIch mag ihn eigentlich nicht, den Herrn Schweinsteiger - aber du hast natürlich echt: Es war ein richtig großes, spannendes Finale Und speziell Schweinsteiger war sehr beeindruckend. Sie wollten es mit aller Macht - und genau deswegen haben sie den Titel wohl auch geholt. Verdient. Sehr schön auch die Frage von Christoph Kramer nach seinem Knock-Out: "Ist das hier das Finale?" Ja, war es. Trotzdem gut, dass es jetzt vorbei ist ,-)
Sommergrüße, K.
Die Chance mit dem Kopf liegen lassen, wörtlich genommen konnte damit doch nur Höwedes gemeint gewesen sein,hihhi. Aber Wahnsinn, was allein die Chronographie dieses einen letzten Spieles schon in sich barg: kurz vorher macht Khedira einen der mutigsten Schritte in seiner Karriere (meiner Meinung nach), indem er Löw seine Spielunfähigkeit bescheinigt. Er hätte ja auch sagen können: "geht schon!", so wie es andere in der deutschen Fußballhistorie schon gemacht haben. Aber im Unterschied zu 2002, als Ballack gelbgesperrt ausfiel, hat Löw mittlerweile Alternativen, die sofort funktionierten. Das hat mich schon überrascht, wie der Kramer die Bälle verarbeitet hat, bis zu seinem k.o., in einem Finale wohlgemerkt. Dieses Wechselbad der Gefühle, als der dann rausmusste und Schürrle reinkam (der entscheidene Passgeber).
AntwortenLöschenUnd "ausgerechnet Götze " macht das Tor, der, über den ich mich fast die gesamte WM soo geärgert habe (beleidigte Leberwurscht) passt dann auch da rein.
Um das Lei(d)thammel-Bild aufzugreifen: bei Schweinsteiger, dem eigentlichen Käpt´n auf dem Platz, hat man förmlich gespürt, der will gewinnen, und bei Messi sah ich diese Qualität nicht, sich für die Mannschaft reinzuhauen und Meter machen, der war gedanklich nie so weit, zu begreifen, dass das dort wahrscheinlich seine letzte Chance war.
Und auch Löw hat sich von seiner Dickköpfigkeit befreit (fast hätte ich Gedankengefängnis geschrieben,ähem), hätte ich ihm nicht zugetraut.
Jetzt ist endlich Ruh, sowohl was die WM angeht, als auch das Titelgeschwafel: schee isses!
Dann können wir uns ja wieder den wichtigen Dingen zuwenden, der SGE.
Vielen Dank für deine bunten Anmerkungen, lieber Briegel. Da war wirklich einiges, was man so nicht erwarten konnte - es muss so vieles zusammenkommen, damit man etwas richtig Großes erreicht und in diesem Fall war es so... mmh, der Jogi Löw. Tatsächlich. Eigentlich kaum zu glauben.
AntwortenLöschenNach all dem Jubel und Trubel, nach Hype und Gaucho-Gate ist mir eine wirklich krasse Veränderung im Vergleich mit früheren WMs bewusst geworden: Früher war nach Weltmeisterschaften immer ein Run auf die Fußballvereine - jeder kleine Junge und manches kleines Mädchen wollte selber so spielen wie Jürgen Grabowski oder Rudi Völler. Ich glaube nicht, dass das in diesem Jahr so sein wird. Da wünschen sich die kleinen Jungs wahrscheinlich ein Nationalmannschaftstrikot und freuen sich auf die nächste WM, weil dann wieder überall gefeiert wird ,-)
Ja, und die Eintracht... mehr Leid als Hammel im Moment, oder vielleicht beides? Das könnte spannend werden diese Saison...