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Unterwegs (1): Ab nach Kassel

In der Nacht von Freitag auf Samstag habe ich vom Theater geträumt. Ich war einer von zehn Zuschauern bei einem experimentellen Theaterstück und wir wurden nach und nach von den Schauspielern auf die Bühne gebeten und hatten dort – als Teil des Stücks – eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Ich wurde in eine quadratische, schwarze Box gesperrt, in der ich Töne erkennen und Lichtspuren hinterherjagen musste. Könnte sein, dass dieser Traum von der Schland-Oper beeinflusst war, die gerade auf großer Bühne stattfindet. Oder von meinem Besuch bei der Documenta in Kassel. Oder von beidem.

aBBILDUNG  (1)
Es geht um Kunst. Bei der Documenta merkt man das schon daran, dass sie nicht Dokumenta, auch nicht – wie schon häufig - documenta, sondern dOCUMENTA geschrieben und mit einer in Klammern dahinter gestellten 13 garniert wird: dOCUMENTA (13)., kurz d (13). Wie ich jetzt gelesen habe, ist dieser Schriftzug auch als eine Art Reminiszenz an das ursprüngliche Logo der Ausstellung – ein kleines d – gedacht. Für mich ist der Schriftzug im Nachhinein fast so etwas wie ein in Typografie übersetztes Ausstellungskonzept.

Im Vorfeld der dOCUMENTA (13) war viel über Hunde, aber auch darüber zu lesen und zu hören, warum diese Dokumenta eine Art Zäsur darstellt, vielleicht sogar - einmal mehr - so etwas wie das Ende der Kunst. Ist kein Konzept auch ein Konzept? Geht es um Poesie? Um künstlerische Prozesse? Um Grenzgänge? Um das Wechselspiel von Natur, Kunst und Wissenschaft? Ist der Ansatz anthroposophisch? Esoterisch? Willkürlich? Zu naturwissenschaftlich? Zu theoretisch? Einfach nur abgedreht? Dadaistisch? Für nicht unerheblichen Wirbel sorgten die schrägen und sprachlich ambitionierten Erläuterungen der künstlerischen Leiterin, Carolyn Christov-Bakargiev, die bei öffentlichen Auftritten häufig von ihrem Hund Darsi begleitet wurde und - wenn man dem, was man liest trauen darf -  intern ob ihres rigiden Führungsstils schon mal als   "Mini-Mubarak von Kassel" bezeichnet wird: Die dOCUMENTA (13) habe kein Konzept, aber eine Choreographie. Sie sei „unharmonisch“ und „frenetisch“, aber auch „ernst“ (und natürlich hundegerecht). Generell hält die Kuratorin „Verwirrung für eine gesunde Position.“

Verwirrt sind wir sowieso. Noch ein wenig mehr Verwirrung in einer ohnehin verwirrten Welt macht den Kohl auch nicht fett, also: Nichts wie hin.

A hard rain is a gonna fall
Es ist ein grauer, verregneter Tag, an dem wir uns auf den Weg nach Kassel machen, wie so häufig sind wir später aus dem Haus gekommen als gedacht, werden also nur den Nachmittag haben, um unsere Bekanntschaft mit der Gegenwartskunst zu vertiefen. Ohnehin hatten wir nicht vor, möglichst viel oder gar alles zu sehen. Einfach durch das Ausstellungsgelände hindurch treiben lassen, hier oder da hängenbleiben, Eindrücke sammeln – so war unser Plan. Es sollte sich herausstellen: Ein guter, genau der richtige, vielleicht sogar: der einzig mögliche Plan. Schon auf dem Weg nach Kassel stimmen wir uns künstlerisch ein: Wir sammeln Worte. Der Fernwald wird zum Fernweh. Im Krachgarten wohnt der Waldhesse, wenn nicht da, dann eben im Knüllwald. Über den Knüllwäldern und Krachgärten wabbert der Nebel, die Straße glänzt vom Regen, der Scheibenwischer quietscht. Und als uns in einem Radiofeature auch noch erklärt worden ist, wie man am besten Probleme löst (nicht spontan streiten, sondern das Problem auf einen Zettel schreiben und einen zum Streiten geeigneten Termin mit dem Streitgegner vereinbaren) – da sind wir auch schon in Kassel.

Protest campt
Rund um die d (13) ist alles „d“: Es gibt dTours, dApps, dBooks, dMaps und das obligatorische Protestlager, das sich direkt vor dem zentralen Aussstellungsgebäude, dem Fridericianum befindet, heißt – na klar – dOCCUPY!  Es ist ein schwül-dämpfiger, windiger und regennasser Tag – eigentlich wäre es nahliegend, sich vor allem drinnen, an den unterschiedlichen Ausstellungsorten, in Räumen aufzuhalten. Trotzdem entscheiden wir uns für den Weg ins Freie, in die Karlsaue. Die Exponate, die im Freien aufgestellt sind, kosten keinen Eintritt - wenn man nicht nur Spazierengehen will, ist es trotzdem sinnvoll für 20 Euro ein Tagesticket zu erstehen. Neben viel Draußen gibt es nämlich auch viel Drinnen – nicht nur in den verschiedenen Ausstellungshallen – z.B. im Friedericianum, in der Orangerie, im Kulturzelt oder der Documenta-Halle – sondern auch in ambulant aufgestellten Containern, Häuschen, Hütten. Einzeltickets werden nicht verkauft, mit der All-in-one-Karte kann man - ohne immer wieder neue administrative Hürden - überall hinein gehen – oder man kann es sein lassen. Alles fließt und kann eine gedankliche Verbindung miteinander eingehen - oder auch nicht. Die begleiteten Gruppenführungen (dTours) sind dazu gedacht „Bedeutungen zu erzeugen“, wir wollen lieber selbst herausfinden, ob und wenn ja was und wie uns etwas bedeutet und laufen also einfach los.

Antropomorph?
Der Raum, den die dOCUMENTA (13) einnimmt,  ist kein geschlossenes Gelände, die Veranstaltungsorte sind über Kassel verstreut und eingebettet in die Kasseler Gegebenheiten - es gibt Haupt-, Neben- und Nebennebenaustellungsorte.  Die großen Ausstellungsgebäude – Fridericianum, Ottoneum, Documenta-Halle, Orangerie – und die dahinter liegende Karlsaue bilden dann doch so etwas wie ein - sehr  weit gestrecktes  - Zentrum. Direkt neben dem Fridericianum befindet sich das Bekleidungsgeschäft Sinn und Lefers (wie überlegen kurz – aber nein: Ein echter Laden), auf dem Weg in Richtung Karlsaue ist eine verkehrsreiche Straße zu überqueren – trotzdem fühlt man sich mit der Eintrittskarte in der Tasche so als hätte man einen in sich geschlossenen Denkraum betreten, sei zum Teil eines beziehungsreichen Ganzen geworden. Die Gebäude, die Besucher, die in großen oder kleinen Gruppen, das weiträumige Gelände beleben, die Autos, Infostände – alles scheint in Bezug zueinander zu treten und zur Interpretation aufzurufen. Dort steht ein Lieferwagen mit weit geöffneten Rückflügeln und zwei Schland-Fähnchen. Installation oder Getränkelieferant? Was bedeuten die bunten, auf einem Bänkchen arrangierten geometrischen Formen? Ist der um das Geländer der Gustav-Mahler-Treppe geschlungene gelbe Draht mit der Aufschrift „Freiheitsschutzzone“ ein kritisches Fanal?

Fundstelle
Neugierig, aber mit einer gewissen Skepsis waren wir hierher gefahren und zunächst behalten die Vorbehalte (von wegen: „Ach das ist Kunst? Das macht meine kleine Schwester mit der Laubsäge.“) die Oberhand. Wir schauen, laufen, blödeln. „Woran erkenne ich denn die Kunstwerke?“ fragt eine ältere Dame, die ein Infoheftchen in der Hand hält, eine der freundlichen, mit gelben Schildchen gekennzeichneten Documenta-Service-Mitarbeiterinnen. „Die Kunstwerke haben Nummern“, erklärt die junge Dame und so schlendern wir windumweht durch die wunderbar weite, grüne Fläche der Karlsaue und suchen Zahlen.

Muh!
Wir stehen vor einem grünen Hügel, aus dem es rauscht, wimmert, quakt, bellt, miaut, mäht und muht und da weit und breit weder Frosch, Hund oder Katze, kein Schaf und schon gar keine Kuh zu sehen ist, muss es sich – trotz ohne Nummer – hier wohl um eine Klanginstallation handeln. Wir überlegen kurz, wie die Performance zu verbessern wäre – z.B. wenn in regelmäßigen Abständen eines der genannten Tiere in Pappmaché an einer Seilwinde vorbeigezogen würde, vielleicht fände sich auch ein Student, der im Kuhkostüm jeweils zur vollen Stunde am Hang erscheint und muht – und wenden uns weiteren Abenteuern zu. Im Nachbarhang kann man zwischen den terassenförmig angelegten Blumenrabatten – Lavendel, Sukkulenten, Rosen, Storchschnabel – nach oben laufen und die Geräusche aus unterschiedlichen Perspektiven orten. Inmitten einer weiten Rasenfläche steht ein Baum, der gar kein Baum ist sondern eine Bronzestatue. Ich stapfe durch das nasse Gras, geselle mich zu einer Schulklasse, die dort steht, den Baum beklopft, gickelt und Handyfotos macht. Ich auch.

Kein Baum
Wir machen einen Abstecher in die Orangerie, die – auch wenn keine Documenta ist – ein Ausstellungsort für naturwissenschaftlich-physikalische Geschichte ist und außerdem das Planetarium beherbergt, das während der Dokumenta durch Exponate ergänzt worden ist. Wir suchen nach Jeronimo Voss, einem Frankfurter Künstler, auf den uns ein Freund aufmerksam gemacht hat und der hier mit einer Installation vertreten ist - die Tochter des Freundes spricht den Text. Leider, leider: "The Eternity through the Stars"  hat gerade Pause und schweigt. Stattdessen vergnügen wir uns mit einer Anlage, die mit einfachen Mitteln die Erdbewegung simuliert, wandern entlang an den verschiedensten Messgeräte und Maschinen. Waagen. Uhren.

Alles Müll
Wie eine Insel in die große weite Fläche der Rasenanlage vor der Orangerie gestellt, sind die beiden begrünten Müllhügel des chinesischen Künstlers Song Dong, die in fast jeder Documenta-Bildberichterstattung zu sehen sind. Die Hügel sind in einem großen Kreis von orangefarbenen Röhren eingefasst, um die man herumgehen, auf denen man sitzen und schauen kann. Auf einem Schild steht, was man auch könnte, aber nicht darf: „Don't walk on the hill.“ Steht da. Und: „Don’t harvest.“ Hihi.


It's only words
Überhaupt sind die Schilder ein ganz eigenes Kapitel dieser Dokumenta. Sie sind überall angebracht und schaffen neue (unfreiwillige?) Sinngefüge. Eine Wasserinstallation ist wegen „Wartungsarbeiten“ außer Betrieb. Gleich mit mehreren Schildern ist der Eisstand „Da Gabriele“ dekoriert, der am Eingang zur Karlsaue, neben einem der dOCUMENTA-Info-Container, platziert ist. Die Schilder baumeln von Bäumen und hängen an Wegemarkierungen: „Dieser Eisstand ist kein Informationsservice der dOCUMENTA 13.“


"Closed" (Claes Oldenburg, jun.)
Die unter einen Baum gekuschelte Hütte mit libanesischer Flagge, mit Schildern und Utensilien, die in einen Baum gehängten Handpuppen, die Reisekiste, das improvisierte Lager haben Nummern – sind also Installationen. Der umgekippte Mülleimer ist wohl einfach nur umgekippt und der „Spezialtiäten Grill“ mit heruntergelassenen Jalouisen steht hier um Documenta-Besucher (Ich ist ein wANDERER) für die langen Wege duch die Au zu stärken – er hat heute leider nicht geöffnet und wird sofort von meinem Mit-Adler zu seinem Lieblingskunstwerk erkoren: „Closed“ von Claes Oldenburg jun.

Ein weiterer Abstecher nach Drinnen, in ein Seitenpavillion der Orangerie,  in der eine Videoinstallation aufgebaut ist. Ein dunkler Raum, drei riesige Leinwände über die parallel wechselnde Filmsequenzen flimmern.Der finnische Dokumentarfilmer Mika Taanila hat hier minutiös den Bau des größten Atomkraftwerks der Welt auf der  kleinen finnischen Insel Olkiluoto begleitet und festgehalten: “The most electrifed Town in Finnland“ In zeitgerafften Bildern ist zu sehen, wie kleine Menschen riesige Röhren montieren, Kabel anschließen. Daneben Landschaftsbilder. Wälder, Seen. Wechselnde Jahreszeiten. Die Schönheit der Natur, die Faszination, das Grauen und die  Irreversibilität der Technik. Menschen, die bei Licht in ihren Häusern sitzen. Dicker Schnee. Wolken. Nacht. Die Leinwände und Bilder wechseln, mal steht die Technik, mal die Landschaft im Zentrum, mal zeigen alle drei Leinwände die gleichen Abläufe aus unterschiedlichen Perspektiven.  Alle Sequenzen sind Teil eines Filmes, die  parallel und/oder zeitversetzt ablaufen. Das Ganze ohne jeden aufklärerischen Duktus, einfach so wie es ist. Reales, melancholisches Pathos.

Nothin' but a Hound dOG
Wir treten wieder nach draußen, es tut gut ins Weite zu blicken, der Wind weht. Auf der Rasenfläche spielt ein Mann mit seinem Hund (dOG?), der einem roten Ball hinterherjagt. Und ungefähr das ist der Moment, an dem ich registriere, dass diese Dokumenta mich - allem innerem Widerstand zum Trotz - erwischt hat. Ich kapituliere. Was immer es bedeutet: Es ist schön hier, einfach schön. Keine aufgestülpte Message – und gerade deshalb  ein überreicher Fundus an Welt, Dingen, Gedanken, Kombinationen, Wegen, Denkmöglichkeiten. Kunst outside of Kunstbetrieb. Kein Diskurs über Kunst - stattdessen ein Austarieren von Dingen und Formen, die uns dabei helfen können, die Rolle und die Funktion von Kunst zu überdenken, vielleicht ja auch einfach nur: Die Welt zurück zu erobern, nicht vor der Wirklichkeit zu kapitulieren.

Kunst campt
Wir haben zu viele Dinge und zu wenig Formen, hat Flaubert vor 150 Jahren bereits erkannt. Heute könnte man hinzufügen: Wir haben zu wenig Formen und zu viele Begriffe, die nichts mehr bedeuten oder irgendetwas und so die Dinge immer weiter verschütten. Hier ist es, als ob wir das, was ist, sein lassen und miteinander zur Ruhe kommen lassen können. Neu sortieren. Öffnen. Anhalten. Das, was ich hier sehe, hat wenig mit meinem eigenen Kunstverständnis zu tun und doch zieht es mich mit sich. Vieles ist zauberhaft und überraschend, manches eher albern, vieles wirkt auf mich (der ich kein wirklicher Kenner zeitgenössischer Kunst bin) epigonal, fast naiv, eher Abklatsch von bereits Gesehenem als originelles Schafen. Was provozierend oder irritierend gemeint sein mag, wirkt häufig eher belustigend. Kaum, dass sich die Frage nach dem Künstler stellt – und trotzdem liegt darin, wie sich im Gehen und Schauen immer neue Kontraste, Verbindungen, Denkmöglichkeiten und Sinngefüge bilden, wie man Innehalten, sich Festhaken und Aufhalten kann, eine merkwürdige, unbegriffliche Wahrheit: Weite und Nähe. Geformtes und Ungeformtes. Präzision und Chaos. Gezähmtes und wild Wucherndes. Sinn und Unsinn.

Open Space
Es ist jetzt bereits früher Abend. Wir machen uns auf den Rückweg – keine Chance, das heute alles zu sehen. Fast sind wir schon vorbei an der Dokumenta-Halle, wollen aber dann doch noch kurz nachschauen, ob es hier vielleicht „richtige“ Kunst gibt und ob sie sich ins Bild fügt. Weiße Gänge und Räume, große Glasfronten mit Blick ins Grüne – in der Halle riesige, weiße Wandinstallationen, die ein aus tausend kleinen Formen zusammengesetztes großes Ganzes bilden. Gustav Metzger mag ein „Vertreter der Aktionskunst sein, der das Destruktionspotenzial des 20. Jahrhunderts entlarvt“, seine in langen Wandelgängen nebeneinandergereihten Gemälde und Skizzen (der Beschauer muss jedes Bild einzeln enthüllen) sagen mir leider trotzdem nichts. Ein junger Mann geht an den Bilderreihen entlang. Seine Füße stecken in halbhohen Boots, aus denen Socken herausschauen. Er trägt gepunktelte Bermudashorts, darüber ein dunkelblaues Jackett und auf dem Kopf trägt er eine wollene Zipfelmütze. Yeah – ein Fluxus. Eine kleine Schlange hat sich vor einem Raum gebildet, in den immer nur eine bestimmte Anzahl Besucher gleichzeitig eingelassen wird. Großformatige Bilder, Gemälde, hochgezogene Fotografien, bearbeitete Screens, Ausschnitte aus Zeitungen, die Queen, Mao, Blumen, Farbflächen. Das „Tagebuch“ des chinesischen Künstlers Yan Lei – ein dem Tagesgeschehen abgewonnenes Bild für jeden Tag des chinesischen Jahres, das 360 Tage umfasst: "Limited Art Project". Die Bilder hängen an den Wänden, an Schienen von der Decke, auf, neben, über- und nebeneinander, ein Farb- und Motivoverkill. Einige Bilder sind in großen aufrecht stehenden Schubfächern verstaut, können von den Besuchern herausgezogen werden, ein älterer Herr zieht – und ihm fällt eines der Bilder entgegen. Nichts passiert, aber er muss jetzt erst einmal neben der Servicemitarbeiterin verharren, bis das Kunstwerk wiederhergestellt ist. „Das gehört richtig festgemacht“, grummelt der Herr. Yep.

Bilder an der Wand
Und dann gibt es ihn doch auch noch, diesen einen Moment, in dem Kunst sich ereignet, ganz wahrhaftig und persönlich wird. In einem quadratischen (sic!) Raum hängen rund herum an allen vier Wänden bunte, kleinformatige Bilder - fast wie ein Fresko. Die Bilder zeigen offensichtlich das immer gleiche Motiv in immer neuen Varianten, den Mount Tamalpais, nahe San Francisco, den die – heute über achtzig jährige libanesisch, amerikanische Künstlerin Etel Adnan - in über 60 Jahren (nach eigenen Aussagen fast schon obsessiv) immer wieder neu gemalt hat. Keine große Kunst, wahrlich nicht. Einfache, grafische Formen – Kreise, Linien, Quadrate, Flächen. Ein eher grober Strich. Für mich ein sehr poetisches, stilles und berührendes Erlebnis.

Will der Trinkende uns damit
etwas sagen?
Wir haben uns müde gelaufen und gesehen, sind durstig und hungrig. Im Untergeschoss der Documenta-Halle gibt es ein kleines Restaurant. Tomatensüppchen und Getränke nehmen wir mit nach draußen, wo unter Bäumen ein paar Tische aufgestellt sind. Alles leer, nur eine einzelne Frau sitzt und raucht. Es hat geregnet, die Stühle sind nass, wir finden trotzdem ein trockenes Plätzchen. Da sitzen wir nun, essen, trinken und sind froh und angeregt von dem, was wir erlebt haben - ich fast schon euphorisch, mein Mit-Adler, der nicht zum Überschwang neigt, nach wie vor eher skeptisch.

Ecclesia militans
Auf dem Rückweg zum Auto mache ich ein letztes Foto vom Mann im Glockenturm. Der gehört gar nicht zur Documenta, sondern wurde von der katholischen Gemeinde St. Elisabeth in Eigenregie installiert und trotz Skandal und Protesten der Documenta-Leitung nicht wieder entfernt. Da steht er nun auf dem Kirchturm, und „droht“. Ui. dONNERSCHLAG.

Wir verabschieden uns fürs erste aus Kassel. So vieles, das wir noch nicht gesehen haben, in der Karlsaue – wo es noch jede Menge zu entdecken gibt: Brücken aus Booten, Gewächshäuser, Teehäuser, einen Hippie-Schrebergarten, ein Hörspiel im Wald – aber auch drinnen, z.B. im ehemaligen Hauptbahnhof, der ebenfalls Teil der dDOCUMENTA (13) ist und wo es (wie ich gelesen habe) einen wunderbaren Dokumentarfilm über die Welt (ja) zu sehen gibt. Wir waren ja noch nicht einmal im Fridericianum, wo der Wind weht, wo Malerei und Skulpturen zu sehen sind und auf selbst gebastelten Instrumenten gehupt wird. Was muss man gesehen haben? Hat mich jemand nach dem Documenta-Besuch gefragt. Ich kann diese Frage leider nicht beantworten und denke: Einfach losgehen - der Weg  führt mit großer Wahrscheinlichkeit ins Freie.


Even the grass is greener
PS:  
Mein Mit-Adler und ich sind am Mittwoch übrigens selbst aktiv als Künstler in das dOCUMENTA (13) Sinngefüge eingetaucht. Inspiriert von einer frühen Fernsprechvermittlungsanlage haben wir eine Performance durchgeführt, die Eckhart Henscheid einst in den „Vollidioten“ beschrieben hat. Ihr könnt sie jederzeit selbst zu Hause mit einfachen Mitteln nachmachen: Zunächst eine im Raum anwesende Person nach einem Streichholz fragen. Er/sie soll dieses Streichholz dann bitte waagrecht zwischen Daumen und Zeigefinger halten und einmal laut und deutlich „Ringring“ sagen. Jetzt müsst ihr nur noch den „Hörer“ abnehmen und euch mit eurem eigenen Namen melden. Ausprobieren – entwaffnend blöd und garantiert immer ein Lacher (auch auf der dOKUMENTA).

Hier noch einige weiterführende Links:

Zur dOCUMENTA (13):
Homepage: http://d13.documenta.de/de/
Empfehlungen http://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-empfehlungen-aus-dem-irrgarten-1.1377731
Noch mehr Empfehlungen, speziell zu Mika Taanila: http://www.perlentaucher.de/essay/etwas-von-dem-unvorstellbaren.html
Lost in Kassel http://www.zeit.de/2012/24/Kunst-Documenta
Kunst kann helfen http://www.fr-online.de/meinung/documenta-kommentar-documenta-13---kunst-kann-helfen,1472602,16351558.html
Brauchen wir Kunst? http://www.zeit.de/2012/25/Documenta-Menke


Zu Etel Adnan:
http://www.arte.tv/de/3659468,CmC=3656970.html
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/das-buch-jahreszeiten-von-etel-adnan-a-839128.html

Kommentare

  1. Schöner Bericht, danke für die Mühe und beileibe nicht nur für die, freue mich schon auf Teil II.

    Was ist schon große Kunst, Kerstin? Giorgio Morandi hat immerzu dieselben Gefäße gemalt, auch mit eher grobem Strich. Seine "Modelle", selber "eingegipste" Flaschen, Kannen etc. sind übrigens auch auf der documenta zu sehen.

    Etel Adnan ist großartig. In einem Heftchen hat die documenta ihren Text 'Der Preis der Liebe, den wir nicht zahlen wollen' herausgegeben http://www.amazon.de/gp/product/3775728554/ref=oh_details_o00_s00_i00 Empfehlenswert.

    Ich glaube, sie saß auch für eine Weile an dem für Dichter eingerichtete Tisch in Kassel und hat, ja was, gemacht.

    Schade, dass der 37tonner Meteorit aus Argentinien nicht kommen durfte. Ich hatte der Dame noch rasch eine Alternative vorgeschlagen, aber da war's leider schon zu spät.

    Schöne Zweitfahrt,

    und Gruß,
    adlermakabra

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  2. Als ich von dem gescheiterten Meteoritentransfer gelesen habe, hab ich natürlich sofort an dich gedacht, lieber Zauberer, und jetzt warst du in die Geschichte sogar direkt involviert - auch das hätt ich mir eigentlich denken könnenmüssen.

    Die Wertschätzung für Etel Adnan aus berufenerem Mund als dem meinen freut mich sehr. Um ihre Bilder ist ein Zauber, eine der Welt abgerungene, in Form und Farben überführte Wahrheit - so ungefähr würde ich auch das beschreiben, was (bildnerische) Kunst ist oder sein kann. Herzlichen Dank für den Lesetipp - und die Morandi-Flaschen und Kannen werden wir uns bei unserem zweiten Besuch in Kassel ganz bestimmt anschauen. Ich werde berichten :-) - die nächsten Unterwegs-Geschichten stehen dann wohl aber erst einmal im Zeichen des großen Bob ,-)

    Danke, dass du hier vorbeigeschaut hast!

    Seien die Meteoriten mit dir, lgk

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  3. Verkehrte Welt: ich habe zu danken für die Gelegenheit zum Reinschauen!

    Was ich bei der Gelegenheit jedem Interessierten ans Herz legen möchte: eine wunderbare, bibliophil gemachte Monographie zu "El Taco", einer der großen, vieltonnigen Eisenmassen des Campo del Cielo-Meteoritenstreufelds in Argentinien, die eine ganz besondere Geschichte hat. Mehr wird nicht verraten. Für die documenta bei Hatje Cantz verlegt: http://www.amazon.de/Guillermo-Faivovich-Nicol%C3%A1s-Goldberg-Meteorites/dp/3775727175/ref=sr_1_fkmr1_1?ie=UTF8&qid=1340837280&sr=8-1-fkmr1

    Hasta la vista, Senora (sorry,Tilde finde ich notorisch nicht) Roja y Negra :-)

    ak

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  4. thank you for this great revieuw
    and the d story
    wich open my eyes

    I was not d enough and got removed !!

    dkabul

    http://www.emergencyrooms.org/documenta_kassel.html

    are you still in Kassel ?

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  5. Thank you for your nice comment and link - as far as I see, you are as d as d can :-)

    No, I'm not in Kassel anymore - but I will come back, probably in August.

    Remenber the d.

    Regards, dRUS

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