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Kojo, Kojo

„Glückliche Familien sind alle auf die gleiche Art glücklich, unglückliche jede auf ihre Art“, so beginnt Tolstois „Anna Karenina“ und wie mit den Familien ist es wie mit den Abstiegen. Nicht der erste, zweite, dritte, vierte ist der Schlimmste. Jeder ist am Schlimmsten, jeder auf seine Art. Und so war der Samstag ein wilder, herzweher, zornig-trauriger Tag (merke: Es ist ein deutlicher Unterschied sich vorher so zu fühlen als sei man bereits abgestiegen und der Tatsache, dass man es ist). Der Sonntag stand unter Betäubung, wie wenn ein D-Zug über mich gerollt wäre. Übernächtigt. Flau. Apathisch. Melancholisch. In der Nacht von Montag auf Sonntag: Viel zu kurzer, aber tiefer Schlaf mit wilden Träumen und dann am Montag – siehe da – ein neuer Tag. Da ist er noch, dieser fast schon vertraute bohrende Schmerz in der Herzgegend. Da wird er auch bleiben, aber der Kopf fühlt sich wieder klarer an. Jammern nützt ja nix. Und die Sonne hat sowieso auch heute wiedernichts besseres zu tun, als auf und wieder unter zu gehen.

Aha. Patrick Ochs hat noch ein letztes Mal eines seiner lustigen Interviews für die Eintracht gegeben. Kurzer, aber heftiger Adrenalinschub: Die Mannschaft habe bereits seit dem vierten Spieltag der Rückrunde gewusst, dass da „nix mehr geht.“ Na, danke auch schön – nächstes Mal bitte vorher Bescheid sagen. Hätte man uns jede Menge Nerven, Herzleid sparen und ab diesem Zeitpunkt den Spielbetrieb nicht nur auf dem Platz, sondern tatsächlich einstellen können. Ab dafür. Merkwürdig fern das alles schon. Das Entsetzen über die Art des Abstiegs fängt bereits an mit den Mythen der Eintracht-Geschichte verwoben zu werden („Boah. 8 Punkte. Sieben Tore. Beispielloser Absturz – das muss uns erst mal einer nachmachen.“) Die Gedanken wenden sich auf das, was kommt.

Es muss alles sehr schnell gehen, wird gar nicht so schnell gehen können, wie es muss. Schon in drei Wochen Trainingsauftakt (befremdliche Vorstellung), das erste Spiel am 14. Juli (huch, ist da nicht noch WM? Es ist.) Erst Ende August werden wir wissen können, wie die Mannschaft wirklich aussehen wird, trotzdem müssen wir von Anfang an da und vorne mit dabei sein… Und dann tickern auch schon die ersten Meldungen durchs Netz. Franz geht vielleicht doch nicht zu Hertha, „fühlt sich wohl“ in Frankfurt und ist als Kapitän gedacht. Rode und Jung sind beim VFB im Gespräch (Bitte nicht. Halten, die Jungs, halten!). Caio geht, heißt es, zurück nach Brasilien. Altintop. Gekas. Schwegler will (bis auf weiteres) selbst wieder gut machen. Tzavellas bekundet ähnliches. Nachmittags die erste Pressekonferenz. Christoph Daum verkündet in Eintracht-Kulisse aber ohne weitere einträchtliche Begleitung, dass „wir“ entschieden haben, dass es besser ist, wenn die Eintracht mit einem anderen Trainer den Wiederaufstieg angehen sollte. Er wünscht uns eine "kurzweilige Zeit in der zweiten Liga" und wird uns auf Wunsch gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wie peinlich ist das denn. Christoph Daum ist bei der Eintracht gescheiter geworden - sehr gut, da hat sich der Abstieg in einem höheren Sinn dann doch gelohnt. „Fort mit Schade“, hätte meine Oma gesagt. Der Vorhang fällt. Die „Ära Daum“ bei der Eintracht – heute schon  fast nicht mehr als eine kuriose Anekdote am Rande.

Das nächste Ereignis dräut bereits am Horizont. Der Aufsichtsrat tagt. Heute Abend um 20.30 Uhr findet eine Pressekonferenz statt. Am Riederwald – das ist symbolisch und richtigungsweisend. Da simmer aber gespannt. Der neue Sportdirektor und der neue Trainer werden verkündet. Gerüchtet es. Live im Internet in Liga1-TV können wir dabei sein. Der Pressekonferenz-Babbel-Fred im Eintracht-Forum  läuft zu Höchstform auf. Hinter jedem Baum und Strauch, in jedem Taxi wird Frontzeck gesichtet. Peter Neururer sitzt bereits mit Kaffee und Apfelkuchen bei Heribert. Der Teufelskreis, in dem wir uns befinden, wird zum Teufelsgreis und gibt Anlass zur Vermutung, dass möglicherweise Lattek? Oder Rehhagel? Friedel Rausch? Kalli Feldkamp? In der „Wer soll neuer Eintracht-Trainer-werden?“-Umfrage der Frankfurter Rundschau steht Stepi (hinter Schui) auf Platz 2. Per Mail teilt mir ein befreundeter 05er mit, dass er für den Fall, dass wir neben Stepi auch noch Ohms und Knispel zurückholen, sich umgehend zur Eintracht bekehren wird. Ich überlege, ob ich das Angebot annehme.

Um 20.30 Uhr sitzen aber- und abertausende Eintrachtler (auch ich) vor dem PC und starren den schwarzen Fleck an, der da statt Video zu sehen ist. Der Aufsichtsrat tagt noch. Die PK verzögert sich. Verzögert sich. Verzögert sich. Um halb Zehn wird es mir zu blöd und ich mache mich vom Acker respektive: Begebe mich Richtung Wohnzimmer, wo ich einen Teller Nudeln mit Tomatensoße verzehre. Um viertel vor 11 berichtet das HR Heimspiel live vom Riederwald, das, was wir alle ohnehin schon wissen. Heribert bleibt. Wir werden einen Sportdirektor bekommen. Ansonsten: Es sind 421 Namen genannt worden, die werde ich mit Ihnen nicht diskutieren. Alle Entscheidungen werden zügig, aber ohne Hast zum Wohle von Eintracht Frankfurt getroffen. Sagt Heribert. Beruhigt lege ich meine Gabel nieder und trinke einen großen Schluck Apfelwein.

Stepi, der heute zu Gast im HR-Heimspiel ist, wird der neue Trainer übrigens nicht heißen. Es sei denn, die anderen 420 sagen alle ab. „Dann komme ich“, sagt Stepi. Vielleicht sollten wir doch mal ernsthaft drüber nachdenken ...?


Nachtrag:
Bleibt die Frage, warum dieser Eintrag die Überschrift „Kojo, Kojo“ trägt. Ein Wortspiel? Eine noch nie gehörte besonders geistreiche Verballhornung von „Caio“? Nein, alles falsch. Kojo ist der Name eines finnischen Sängers, der 1984 am ESC (so sagt man jetzt) teilgenommen hat. Er erhielt null Punkte. In einer der hundertfünfzig  (oder waren es 421?) Grand Prix Dokumentationen, die in der vergangenen Woche ausgestrahlt worden sind, wurde er gefragt, ob das schlimm für ihn gewesen sei und ob er es inzwischen verkraftet habe. Ja, antwortete er, es war schlimm. Und: Nein, er habe es noch nicht verkraftet. Wie auch? „In Finnland wird ein Eishockey-Spiel, das mit einem 0:0 endet, heute noch als Kojo, Kojo bezeichnet.“

Und was hat das mit der Eintracht zu tun? Ganz einfach: Wie in der zurückliegenden Saison hat die Eintracht zwar gestern die eine oder andere Chance herausgearbeitet, reicht aber nicht: Leider wieder kein Tor erzielt! Zurück auf Null. Kojo, Kojo.

Kommentare

  1. Kerstin,lächelt-ich habe nicht die PK-gesehen und auch nicht darauf gewartet,bin total auf Abstand und dass ist auch gut so.
    Fühle mich nach dem Supergau(Abstieg)wieder richtig frei und auch wohl,die Nerven sind nicht mehr zum zerreissen gespannt-nein es ist schön,eine innere Leere zu spüren-dass wirkt befreiend.
    Freue mich einfach auf die ganzen Sommerevents-Hessentag in Oberursel,da werde ich auch einige -User-kennen lernen und bei uns,du hast die Handynr-irgendwann kurz vor der Saison oder während der Halbserie-im August-wäre nicht schlecht.;-))))
    LG
    (B)

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  2. Meinte nicht innere Leere sondern-innere Zufriedenheit und Gelassenheit,lächelt!
    LG
    (B).

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  3. bin durch die lektüre über das zitat von ochs gestolpert. seit dem vierten spieltag gewusst, aber erst kurz vor toreschluss läuten die alarmglocken. ich sags ja, die sind zu doof gewesen.

    danke für deine arbeit währen der gesamten saison und viele grüße

    beve

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  4. Wenn ich ungefiltert hinschreiben würde, was mir so, jetzt auch noch nach diesem Interview von Ochs, durch's Hirn rauscht, dann... aber das muß ja nicht sein. Ich bin einfach froh, wenn ich die Mehrzahl dieser Arschgeigen inklusive diesem aufgeblasenen Trainerwichtel und seinem August-Bier-Medaillenträger nicht mehr sehen muß. Außerdem versuche ich gerade, mich an die Zweitligazeiten zu gewöhnen. Es geht ja immer weiter. Eintracht! C.

    PS: Dieser peinliche Tag gestern war auch kein erster Weckruf. Wie kann ich eine PK ansetzen, wenn doch schon im Vorfeld klar ist, daß man so schnell nichts zu sagen hat. Kommt bestimmt gut.

    PPS: Kojo, Kojo - an diese Finnen kann ich mich erinnern, die haben dauernd etwas vor sich hin geträllert, das wie "Nuki Bombi" klang.

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  5. Großartig, Kerstin, wirklich famos - vom Anfang bis zum Ende, vom Zitat deiner Oma bis zur Erklärung der Überschrift. Danke. Ich wünsche mir, diese unterhaltsame Klasse auch von der Eintracht. Wünschen darf ich ja, selbst das Träumen hat mir Bruchhagen einst erlaubt.

    Gruß vom Kid

    PS: Wenn mancher Fußballer im Alter, angekommen im Leben außerhalb des Zirkus-Zirkels, in dem sich ein Profi bewegt, vielleicht noch "erwachsen" geworden sein wird, könnte rückblickend das eine oder andere Interview Schmerzen und Pein verursachen. Das wäre nur gerecht. Wir halten diesen Schmerz und diese Pein ja heute schon aus. :-)

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  6. Das einzige, was einem dabei hilft, diesen ganzen aberwitzigen, überflüssigen, sehenden Auges selbstverschuldeten Abstieg, dieses selbstgerechte Jeder-hat-nur-mit-sich-selbst-zu-tun zu überstehen ist ja die Hoffnung, dass dieser Absturz zumindest der Anlass sein möge, dass jetzt ein paar Dinge abgestellt werden, dass es einen Schlag tut, die richtigen Entscheidungen für die Eintracht getroffen werden. Seit gestern hab ich da meine Zweifel, ach was: ich hab Angst. Als ich eben las, dass Andi Menger die Eintracht verlässt, wurde mir schwarz vor Augen und ich sah es auf einmal deutlich vor mir, wie jetzt alles zerfleddert und auseinandergerissen wird - und vielleicht wieder keiner da ist, der etwas dagegegen hält.

    Jemand, von dessen Meinung ich sehr viel halte, hat grade zu mir gesagt: "Wir stehen erst am Anfang eines langen Leidenswegs..." Ich hoffe, er behält dieses Mal nicht recht.

    Danke für eure Kommentare und lg in alle Richtungen. Eintracht!

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  7. Nachtrag wg. zeitgleichem Kommentar :-) Danke, lieber Kid. Vielen Dank!

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  8. Der Weg wird lang. So lange ich atme, hoffe ich. Hoffe ich, das aus dem Weg des Leidens , ein Weg der Leidenschaft wird. Allein der Glaube fehlt mir zur Zeit noch. Fühlt sich irgendwie nach Dramen, Diven, Durststrecken an.

    Danke für diesen erstklassigen Beitrag & wie gesagt: So lange ich atme, hoffe ich.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen,
    Fritsch.

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  9. Manchmal passieren die Dinge, die man erhofft, gerade dann, wenn man glaubt, keinen Anlass mehr zur Hoffnung zu haben. Wir werden sehen, ich hoffe mit dir.

    Danke fürs Lesen und Loben, lgk

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