Wusel. Hektik. Arbeit. Der Wind rüttelt am Fenster, Regen plitscht und platscht. Sanft und grün das Licht, die Welt vor meinem Bürofenster. Fetzen des Gesprächs, das wir gestern spät abends geführt haben, huschen mir durch den Kopf. Zeit und Raum. Sein und Zeit. Mein Blick verfängt sich im Baum, der vor dem Fenster steht. Meine Gedanken schweifen ab…
...Geschichte …chronologische Abfolge von Ereignissen... Entscheidungen, Kämpfe und Schlachten… Fußballgeschichte: Eine Saison folgt der nächsten. Jahr auf Jahr. Spieler, Spiele, Ergebnislisten. Auch die individuelle Geschichte folgt diesem Zeitenlauf – und doch sind es häufig nicht die äußeren Ereignisse, die bleiben, sondern die Bilder und Geschichten, die mit ihnen verknüpft sind...
Ein wichtiger Mittelpunkt meiner Kindheit und Jugend war der Kirschbaum, der bei uns im Garten stand. Meine Großeltern hatten ihn gepflanzt als sie in das Haus einzogen, der Baum war ebenso alt wie mein Vater. Mein erstes Baby-Foto zeigt mich zusammen mit meinem Opa unter dem Kirschbaum. Als kleines Mädchen kletterte ich in den Baum und benutzte die unteren dicken Äste zum Turnen. Der Baum wuchs weiter, ich ebenfalls - die Astgabelung bildete jetzt eine Kuhle und wurde zur Leseecke. Im Frühsommer zentrierte sich das Leben unserer ganzen Familie um den Kirschbaum. Mein Opa und mein Vater waren damit beschäftigt, Kirschen abzumachen, meine Oma weckte sie ein, verarbeitete sie zu Marmelade. Überall große Körbe voller Kirschen, die zu Onkeln und Tanten und Nachbarn verbracht wurden. Und ich? Ich aß den ganzen Tag über Kirschen, am liebsten und eigentlich fast ausschließlich direkt vom Baum.
Auch zu meinen ganz frühen Fußballerinnerungen gehört der Kirschbaum. Ich sitze mit meinem Vater, der Fernseher läuft, die Flügel des Fensters sind weit geöffnet, es ist warm. Im Dunkel zeichnet sich draußen die Kontur des Kirschbaums ab. Im Fernsehen Fußball, vielleicht das Sportstudio? Zwischendurch klettere ich durchs Fenster – das Zimmer liegt im Parterre – nach draußen , um ein paar Kirschen zu essen. Von Innen die Fußballgeräusche aus dem Fernseher, leise, manchmal laute Stimmen. Wenn ich genug gegessen habe, stelle ich mich auf einen kleinen Mauervorsprung, mein Vater lehnt sich durchs Fenster und hievt mich wieder hinein.
Mein erster Besuch im Waldstadion – ich kann mich nicht mehr genau an das Spiel und den Gegner erinnern, weiß, dass die Eintracht nach einem Rückstand noch gewann – ist untrennbar verknüpft mit dem Bild von Buttermilch. Wir waren zu dritt – mein Vater, ein guter Freund und ich – mit dem Zug aus Rüsselsheim zum Stadion aufgebrochen. Der Zug hielt nicht am Sportfeld – wir fuhren durch bis Hauptbahnhof. Nur noch eine Viertelstunde bis Anpfiff – keine andere Wahl, wir mussten uns ein Taxi nehmen. Ein Herr, den wir im Zug kennen gelernt hatten, schloss sich uns an. Er trug einen dunklen Mantel, einen Hut und hatte – aus mir bis heute unerfindlichen Gründen – eine Plastiktüte bei sich, in der sich mehrere Packungen Buttermilch befanden. Kurz vor knapp am Waldstadion angekommen, verteilten wir die Buttermilch auf uns vier, um schneller laufen zu können. Der Herr ging uns unterwegs verloren – die Buttermilch blieb.
1992. Die lakonische, höhnische Dramatik des Spiels. Der nicht gegebene Elfer. Die Verzweiflung von Ralf Weber. Das Bild jedoch, das mir am nachhaltigsten in Erinnerung ist, stammt nicht aus dem fernen Aleschia, sondern aus unserer Küche. Ein baumlanger, lieber Adler-Freund, der zusammengekauert auf dem Fußboden sitzt und dem die Tränen die Wangen herunterlaufen.
1999: Das Übersteiger-Spiel – für mich fest verbunden mit dem Geruch von Erdbeerkuchen.
2001: Zweitligaspiel gegen Ahlen. Das Waldstadion noch als halbe Baustelle. Es regnet, ist kalt, die Treppen glitschig. Wir verlieren mit 2:1. Ich rutsche auf der Treppe im Block aus. Nass. Elend. Autsch. Ewiges Bild fußballerischen Elends: 10.000 bedröppelte Eintrachtler im Nieselregen und ein Trüppchen von ca. 50 Ahlener Fans, die lauthals singend das Stadion verlassen.
2003: Das letzte Spiel der Saison. Wir haben keine Karten mehr bekommen, bibbern und leiden zuhause. Nur noch zwei, drei Minuten bis zum Abpfiff. Vorbei. Alles vorbei. Sitze starr und steif auf dem Gartenbänkchen, über mir kreist ein kleines Motorflugzeug, das ein Banner hinter sich herzieht. „Mainz 05 – erste Liga wir kommen“ steht darauf. Aus dem Wohnzimmer ein Urschrei. Tor. 5:3. Ich stürze nach Innen.
...Ring ring. Das Telefon kreischt. Ploing. Sein und Zeit und Raum. Von wegen. Ich falle zurück in die Wirklichkeit. Welche Bilder werden es sein, die von dieser Saison, der Saison 2009/2010 bleiben? Ich hoffe, das Bild jubelnder Eintrachtler in Wolfsburg gehört dazu.
...Geschichte …chronologische Abfolge von Ereignissen... Entscheidungen, Kämpfe und Schlachten… Fußballgeschichte: Eine Saison folgt der nächsten. Jahr auf Jahr. Spieler, Spiele, Ergebnislisten. Auch die individuelle Geschichte folgt diesem Zeitenlauf – und doch sind es häufig nicht die äußeren Ereignisse, die bleiben, sondern die Bilder und Geschichten, die mit ihnen verknüpft sind...
Ein wichtiger Mittelpunkt meiner Kindheit und Jugend war der Kirschbaum, der bei uns im Garten stand. Meine Großeltern hatten ihn gepflanzt als sie in das Haus einzogen, der Baum war ebenso alt wie mein Vater. Mein erstes Baby-Foto zeigt mich zusammen mit meinem Opa unter dem Kirschbaum. Als kleines Mädchen kletterte ich in den Baum und benutzte die unteren dicken Äste zum Turnen. Der Baum wuchs weiter, ich ebenfalls - die Astgabelung bildete jetzt eine Kuhle und wurde zur Leseecke. Im Frühsommer zentrierte sich das Leben unserer ganzen Familie um den Kirschbaum. Mein Opa und mein Vater waren damit beschäftigt, Kirschen abzumachen, meine Oma weckte sie ein, verarbeitete sie zu Marmelade. Überall große Körbe voller Kirschen, die zu Onkeln und Tanten und Nachbarn verbracht wurden. Und ich? Ich aß den ganzen Tag über Kirschen, am liebsten und eigentlich fast ausschließlich direkt vom Baum.
Auch zu meinen ganz frühen Fußballerinnerungen gehört der Kirschbaum. Ich sitze mit meinem Vater, der Fernseher läuft, die Flügel des Fensters sind weit geöffnet, es ist warm. Im Dunkel zeichnet sich draußen die Kontur des Kirschbaums ab. Im Fernsehen Fußball, vielleicht das Sportstudio? Zwischendurch klettere ich durchs Fenster – das Zimmer liegt im Parterre – nach draußen , um ein paar Kirschen zu essen. Von Innen die Fußballgeräusche aus dem Fernseher, leise, manchmal laute Stimmen. Wenn ich genug gegessen habe, stelle ich mich auf einen kleinen Mauervorsprung, mein Vater lehnt sich durchs Fenster und hievt mich wieder hinein.
Mein erster Besuch im Waldstadion – ich kann mich nicht mehr genau an das Spiel und den Gegner erinnern, weiß, dass die Eintracht nach einem Rückstand noch gewann – ist untrennbar verknüpft mit dem Bild von Buttermilch. Wir waren zu dritt – mein Vater, ein guter Freund und ich – mit dem Zug aus Rüsselsheim zum Stadion aufgebrochen. Der Zug hielt nicht am Sportfeld – wir fuhren durch bis Hauptbahnhof. Nur noch eine Viertelstunde bis Anpfiff – keine andere Wahl, wir mussten uns ein Taxi nehmen. Ein Herr, den wir im Zug kennen gelernt hatten, schloss sich uns an. Er trug einen dunklen Mantel, einen Hut und hatte – aus mir bis heute unerfindlichen Gründen – eine Plastiktüte bei sich, in der sich mehrere Packungen Buttermilch befanden. Kurz vor knapp am Waldstadion angekommen, verteilten wir die Buttermilch auf uns vier, um schneller laufen zu können. Der Herr ging uns unterwegs verloren – die Buttermilch blieb.
1992. Die lakonische, höhnische Dramatik des Spiels. Der nicht gegebene Elfer. Die Verzweiflung von Ralf Weber. Das Bild jedoch, das mir am nachhaltigsten in Erinnerung ist, stammt nicht aus dem fernen Aleschia, sondern aus unserer Küche. Ein baumlanger, lieber Adler-Freund, der zusammengekauert auf dem Fußboden sitzt und dem die Tränen die Wangen herunterlaufen.
1999: Das Übersteiger-Spiel – für mich fest verbunden mit dem Geruch von Erdbeerkuchen.
2001: Zweitligaspiel gegen Ahlen. Das Waldstadion noch als halbe Baustelle. Es regnet, ist kalt, die Treppen glitschig. Wir verlieren mit 2:1. Ich rutsche auf der Treppe im Block aus. Nass. Elend. Autsch. Ewiges Bild fußballerischen Elends: 10.000 bedröppelte Eintrachtler im Nieselregen und ein Trüppchen von ca. 50 Ahlener Fans, die lauthals singend das Stadion verlassen.
2003: Das letzte Spiel der Saison. Wir haben keine Karten mehr bekommen, bibbern und leiden zuhause. Nur noch zwei, drei Minuten bis zum Abpfiff. Vorbei. Alles vorbei. Sitze starr und steif auf dem Gartenbänkchen, über mir kreist ein kleines Motorflugzeug, das ein Banner hinter sich herzieht. „Mainz 05 – erste Liga wir kommen“ steht darauf. Aus dem Wohnzimmer ein Urschrei. Tor. 5:3. Ich stürze nach Innen.
...Ring ring. Das Telefon kreischt. Ploing. Sein und Zeit und Raum. Von wegen. Ich falle zurück in die Wirklichkeit. Welche Bilder werden es sein, die von dieser Saison, der Saison 2009/2010 bleiben? Ich hoffe, das Bild jubelnder Eintrachtler in Wolfsburg gehört dazu.
Sehr schön, gut ausgedrückte Erinnerungsfetzen - die ich oft ähnlich teile.
AntwortenLöschenZu Wolfsburg: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, aber...
Lieben Gruß
Ich sehe nicht nur schwarz-gegen Wolfsburg-sondern verdammt schwarz.
AntwortenLöschenEcht? So pessimistisch wg. morgen? Mmmh.... ehrlich gesagt, hab ich auch eher ein leicht mulmiges Gefühl... May be the wheather or something like this - aber ich will dem lieber nicht Nachgeben...
AntwortenLöschenDanke fürs Feedback und liebe Grüße in alle Richtungen!