Direkt zum Hauptbereich

Fußballwunderkinder wie wir

Vor einiger Zeit bin ich auf den mir bis dato komplett unbekannten englischen Schriftsteller J.L. Carr aufmerksam geworden. Er lebte von 1912 bis 1996 und hat einige sehr unterschiedliche und auf unterschiedliche Art großartige Bücher geschrieben. Das bekannteste davon ist sicher "Ein Monat auf dem Lande", aber davon soll hier nicht die Rede sein, sondern davon, dass J.L. Carr offensichtlich auch ein großer Fußballfan war. Seine Liebe zum Fußball und zu den Menschen, die Fußball lieben, hat er in seinem Buch "Wie die Steeple Sinderby Wanderers  den Pokal holten" festgehalten. Es erzählt davon, wie ein kleiner englischer Provinzverein es schafft, sich bis zum englischen Cup Final in Wembley durchzukämpfen, auf dem Weg dorthin Leeds United, Manchester, im Halbfinale Aston Villa schlägt und im Finale  (huch!) auf die Glasgow Rangers trifft, und den Pokal dann tatsächlich nach Sinderby holt. Der Weg dorthin ist wild und sorgt landesweit für eine unglaubliche Euphorie. ("Wir waren zu einer beliebten Marke geworden, der niemand wiederstehen konnte. Zu etwas, an dem jeder teilhaben wollte...Nun gut."

Das ganze ist kein realistischer Roman, sondern ein witziges, kurioses Konglomerat von Menschen und Geschichten, eine chaotische Utopie, die nichtsdestotrotz sehr viele reale, berührende Schicksale schildert und sehr viel des - damals, in den sechziger, siebziger Jahren - zeitgenössichen Englands  und jede Menge Seitenhiebe auf die Sensationspresselandschaft enthält. ("ITV, das Netzwerk mehrerer Uunabhängiger kommerzieller Fernsehstationen, schickte einen Kameramann mit fünf aufgepeitschten Gruppen von Fans aus Glasgow, um zu fiilmen, wie diese auf der Hauptstraße von Newcastle- on-the-Tyne systematisch sämtliche Schaufenster einwarfen, die Ladenbesitzer zu Boden traten und wie sie dann ihrerseits von Polizisten verprügelt wurden.") Sehr schräg, sehr witzig und mit sehr viel Fußballsachverstand. 

Die Sinderby Wanderers haben einen klugen Vereinsvorsitzenden, Mr. Fangfoss, der nicht nur die Geschicke des Vereins, sondern praktisch ganz Sinderby lenkt. Und da ist Dr. Kossuth, der Schuldirekter, ein Philosoph, der nach eingehender Analyse verschiedener Fußballspiele einen Plan entwickelt hat, mit dem die eigentlich komplett chancenlosen Underdogs einen großen Cup holen können. Sie stellen einen Trupp rührend verlorener, fußballerisch mehr oder weniger begabter  Fußballer zusammen, die sich einen großen Traum verwirklichen wollen und bereit sind, alles in den Dienst der großen Sache zu stellen. Vier Spieler aus der Dorfmannschaft, fünf aus benachbarten Dörfern und  vier einer Minenarbeiter-Mannschaft, die "für ihre rauhe Spielweise, derbe Sprache und eiserne Ausdauer bekannt waren." Und zwei, drei reaktivierte Ex-Profis, die sich nach frühen Erfolgen im Profi-Fußball  aus dem Geschäft zurückgezogen haben. Alan Slingsby zum Beispiel, der als großes Talent galt, sechs Spiele für Aston Villa bestritten hat, und ausgestiegen ist, um für seine kranke Frau da zu sein. Oder Sid Swift, der ehemalige Shootingstar und Goalgetter, der über Nacht von einer Depression außer Gefecht gesetzt worden war. "Beim gewiss recht traurigen Frühstück am nächsten Morgen soll er seine verwitwete Mutter gefragt haben, ob sie wirklich glaube, dass er nur auf der Welt sei, um einen Ball durch die Gegend zu kicken, während ein verrückt gewordener Mob einen Heidenlärm veranstaltete."  

Im "Swan", einem der beiden Pubs von Sinderby, wird die Truppe auf das große Ziel eingeschworen. Der Plan besteht im wesentlichen aus absoluter köperlicher Fitness und aus fünf Regeln + einer Erweiterung, die konsequent umgesetzt werden müssen. Beim Lesen habe ich mich manchmal gefragt, ob die Eintracht (möglicherweise in Kenntnis des Buches?) in der Europacup-Saison zumindest einige sehr ähnliche Regeln aufgestellt hatte? Schon der Titel des Buches könnte dazu ein erster Hinweis sein, aber die Eintracht ist natürlich nicht zu vergleichen mit einem fünftklassigen Amateurverein. Nein, beileibte nicht.

Also trotzdem - hier die Regeln, mit denen die Sinderby Wanderers es bis ins Cup-Final geschafft haben:

"Regel 1:

Man kann den Ball ohne Weiteres spielen, ohne auf seine Füße zu schauen. Frauen müssen beim Stricken auch nicht auf ihre Hände gucken.

Regel 2:

Ein herausragender Torwart ist das wertvollste Gut einer Mannschaft. Selbst einem überlegenen Gegner kann er beinahe aus eigener Kraft den Sieg vereiteln.

Regel 3:

Ein guter Torwart muss nicht unbedingt ein besonders guter Fußballspieler sein. Er braucht ähnliche Fähigkeiten wie ein guter Tischler oder Busfahrer – er muss augenblicklich Räume und ihr Fassungsvermögen einschätzen können. Außerdem muss er über außergewöhnliche Geschicklichkeit und Mut verfügen.

Regel 4:

Der einzige bedeutende Unterschied zwischen den technischen Fähigkeiten eines Amateurs und denen eines Profis ist, dass Letzterer den Ball mit dem Kopf weitaus präziser weiterleiten kann. Vorschläge zur Abhilfe: 1) Wenn möglich den Ball in Bodennähe halten , und  2) ein Gelände als Spielfeld aussuchen, das ungeeignet für hohe Bälle ist. 

Regel 5:

Jeder Spieler bis auf den Mittelstürmer muss das eigene Tor verteidigen, und jeder Spieler bis auf den Torwart muss das gegnerische  Tor angreifen.

Regel 6:

Der einzige Heimvorteil bei einem Spiel besteht darin, dass sich die Heimmannschaft zu Hause fühlt. Daher sollte sich die auswärtige Mannschaft vorstellen, sie sei ebenfalls zu Hause, und dafür sorgen, dass sich die Heimmannschaft weniger zu Hause fühlt."


Fragt ihr euch jetzt, wie es denn nach dem Cupgewinn mit den Wanderers weiterging? Gar nicht.  Sie waren klug genug zu wissen, dass sich ein so großartiger Triumph ganz sicher nicht wiederholen lässt. "...dieses Endspiel war ein großartiges Stück Musik, und man könnte sagen, dass es für sich selbst stand. Aber im Rückblick betrachtet, war dieser gewaltige Höhepunkt in Form zweier aufeinanderprallender Akkorde für mich und vielleicht zwei, drei weitere von uns lediglich ein Fragment eines größeren Ganzen." Das Management, die Spieler, der durchgeknallte Support, die Pressereferentin verstreuen sich in alle Winde und widmen sich anderen Lebensplänen. 

"Bald nahm das Leben wieder seinen Lauf, und es war großartig, wieder gemächlich über die ausgetretenen Pfade zu trudeln."

In diesem Sinne ;) 

(Alle Zitate:  J.L.Carr, Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten, Dumont 2017 / Original: How Steeple Sinderby Wanderers won the FA Cup, 1975)

Kommentare

  1. Norbert Jäger16. Mai 2023 um 17:39

    Schön, dass Du es hier lebendig erhältst. Vermutlich, nein, mit Sicherheit das wundervollste Buch über Fussball. Erinnerungen an England und eine andere Zeit obendrein.

    AntwortenLöschen
  2. Ach wie schön, dass du vorbei geschaut hast. Und wg. der Sinderby Wanderers sind wir komplett einer Meinung, ein wundervolles Buch.

    Mit dem Hier- Lebendig-Halten ist es so eine Sache - ich schaffe es einfach nicht regelmäßig und inzwischen schaut, so weit ich das sehen kann, nur noch ab und zu jemand vorbei und gaaanz ab und zu kommentiert mal jemand. Vielen Dank also!!! So ein Blog ist halt aus der Zeit gefallen und kann gegen Podcasts, Twitter & co nicht so richtig bestehen - alles überall schon zehn oder hundertmal gehört, geschrieben, kommentiert. Und ich "bewerbe" das Ganze ja auch nicht auf Facebook oder Insta. Trotzdem: Nischen sind ja auch ganz nett und ich mag meinen Blog auch zu sehr, um ihn aufzugeben. Auch so was wie ein Erinnerungsraum. Krame und lese hier öftermal in vergangenen Jahren und entdecke Texte von vor zehn Jahren, die ich heute noch gut finde. Und natürlich mega viele Erinnerungen.

    AntwortenLöschen
  3. Aus der Zeit gefallen. Ja. Aber dennoch schön. Wie so vieles. Danke für den Hinweis auf Herrn Carr.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die nächste Strophe vom alten Reisbrei

Am Samstagabend höre ich im ZDF Sportstudio die Vorankündigung für das Spiel am Sonntag im Waldstadion. „Hannover kann morgen auf den zweiten Tabellenplatz vorstoßen“, verkündet Katrin Müller-Hohenstein. Tatsächlich? Was Sie nicht sagen. Und die Eintracht? Hey – hallo, das ist unser Heimspiel, und wir werden es gewinnen, weil nämlich dann wir es sein werden, die zu Hannover und zur Spitzengruppe aufschließen. Capisce? Und tatsächlich. So machen wir es. Impressionen vom Spiel: Patrick Ochs, der in der ersten halben Stunde auf der rechten Seite herum mannövert als habe er tatsächlich vor, was er vorher verkündet hatte: Sich festbeißen – und von dem in der zweiten Halbzeit nichts mehr zu sehen ist. Halil Altintop, der (auch in seinem eigenen Sinn) zur Halbzeit hätte ausgewechselt werden müssen, und von seinem Trainer, der voll hinter ihm steht, eine viertel Stunde vor dem Ende zum Abschuss freigegeben und – sichtlich um Fassung bemüht – regelrecht vom Platz gepfiffen wird. (Ja, ja.

Kleines Fußball-ABC - Heute "U" wie "Unterschiedsspieler"

Unterschiedsspieler, der (pl. (selten die); fußballneudeutsch für einen Spieler, der – wie der Name schon sagt – den Unterschied machen und ein Spiel entscheiden kann. Bsp .    → Rebic, Ante (Eintracht Frankfurt) , der in der ersten Runde des DFB-Pokals 2019/20 “ den aufmüpfigen Drittligisten Waldhof Mannheim quasi alleine in die Knie zwang. “ In der Regel ist der → Unterschiedsspieler ein Offensivspieler, aber auch Defensivspieler „mit einer starken Technik und einem guten Gespür für Räume imOffensivspiel“  können Unterschiedsspieler sein  -   Bsp.   → Baumgartner, Christoph TSG Hoffenhei m) , → Kimmich, Joshua (FC Bayern München) oder  →Kostic, Filip (Eintracht Frankfurt), der für seinen Trainer →Adi Hütter derzeit „der absoluteUnterschiedsspieler“ ist. Auch Torhüter  können den Unterschied machen ( Bsp. Neuer, Manuel, FC Bayern München ), was als Beleg dafür gelten kann, dass auch Spieler, die nicht der Mannschaft von →Eintracht Frankfurt angehören, →Unterschiedsspieler sein kö

Hans-Dieter "Fips" Wacker - ein Fußballerleben

Es ist ein paar Monate her, dass ich für diesen Blog im „Kleinen Fußball-ABC“ einen eher satirisch gefärbten Beitrag zum Thema  Nachwuchstalente verfasst habe. Es war Kid Klappergass, der das Thema in einem Kommentar in ernsthaftere Bahnen führte: Es gebe nicht viele große Eintracht-Talente, denen er nachtrauere, aber eines davon sei ganz gewiss Fips Wacker. Fips Wacker? Diesen Namen hatte ich noch nie gehört und machte mich auf die Suche nach ein paar Informationen. Es war nicht viel, was ich im Netz aufstöbern konnte – aber was ich fand, machte mich neugierig. Die „Spur“ führte zum Heimatverein von Fips Wacker, der SKV Büttelborn und wie es der Zufall so will: Einige Wochen später sollte in Büttelborn ein Spiel der Alten Herren – der  Old Boys   gegen die Eintracht-Traditionsmannschaft ausgetragen werden. Wenn für Hans-Dieter Wacker alles so gelaufen wäre, wie es hätte laufen können, hätte er in diesem Spiel vielleicht eine Halbzeit lang für die Eintracht und eine für den SKV auf de