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Tiger ohne Ente

Irgendwann sind genug Kerzen angezündet, der Braten hat geschmeckt und das Buch wird für eine Weile zur Seite gelegt.  Die Welt ist still, wir wollen hinaus an die frische Luft und fahren an den Rhein, wo das Wetter wild und der Blick weit ist. Eben scheint noch die Sonne, dann ziehen dicke schwarze Wolken auf. Bei stürmischem Wind und Nieselregen laufen wir am fast menschenleeren Rheinufer entlang, möchten gerne zur anderen Rheinseite übersetzen, aber der Fährbetrieb in Ingelheim ist wegen Niedrig-Wasser bis auf Weiteres eingestellt, auch auf dem Rhein sind keine Lastschiffe unterwegs. So stapfen wir durch die Ingelheimer Rhein-Aue, beobachten die Enten und das Wasser, schweigen und reden über Gott und die Welt.

Dann sind wir müde gelaufen und freuen uns auf eine Tasse Tee und ein Kerzchen zuhause. Statt auf direktem Weg nach Hause zu fahren,  fahren wir einen Bogen, gondeln über die Dörfer  und entdecken im Vorbeifahren allerlei Schönes und Verborgenes.  Schließlich stoßen wir auf ein Schild, das unsere Neugier weckt. „Tiger-Garten – was ist das denn?“ „Ein Garten, in dem Tiger sind“, antwortet mein Mit-Adler. „Hier? In den Weinbergen hinter Ingelheim? Was für ein Quatsch!“, sage ich, und da wir das jetzt gerne genauer wissen wollen, folgen wir dem Schild. Unser Auto schraubt sich auf einer schmalen, serpentinenartigen Straße immer weiter nach oben. Auch, wenn wir heute nicht wandern wollen, befinden wir uns offensichtlich auf dem Weg zu einem der Höhenwanderwege am Rhein, den so genannten Hiwwel-Touren. Ab und zu kommt uns ein Auto entgegen, wir fahren langsam, genießen die prächtige Aussicht ins Tal.

Wir sind da. Der große Parkplatz ist jetzt – am frühen Nachmittag – sehr gut belegt. Links zweigt der Weg zu einem Restaurant ab, das derzeit geschlossen hat. Geradeaus geht es weiter zum Bismarckturm, zum Ausflugslokal Waldeck und: Zum Tiger-Garten.

Stattlich und wehrhaft erhebt sich der Bismarckturm vor dem jetzt blauen Himmel. Der Blick von der davor liegenden Aussichtsplattform ist einfach überwältigend. Gerade bricht die Sonne durch, die Weinberge, die Stadt Ingelheim  liegen im hellen Licht unter uns, dahinter glitzert der Rhein.

Wir wenden uns der weiteren Erkundung des Ortes zu. Ein typisches, ein wenig aus der Zeit gefallenes Ausflugslokal. Es  riecht nach Bratwurst und Rotkraut, es gibt Gans undSchnitzel, und einen – wohl für Feierlichkeiten vorgesehenen – Wintergarten mit langen Tischreihen und Stühlen, die derzeit mit Weihnachtsmannmützen dekoriert sind. Ein mit lustigen Bildchen versehenes Plakat verkündet, dass hier von Mai bis November an den Wochenenden Tanzabende veranstaltet werden, mit Schlagern aus der Musikbox, Disco-Fox, Live-Band und Talentewettbewerb.  Vor dem Wintergarten eine überdachte Veranda, seitlich daneben, direkt anschließend  zwei, drei kleine, flache Anbauten, ebenfalls umrandet mit einem Zäunchen. „Ferienwohnungen und Übernachtungen“ steht auf einem Pappaufsteller, daneben  eine Plastiktischgruppe zum gemütlichen Draußensitzen.

Wir gehen weiter um das Gebäude herum, vorbei an einer – derzeit geschlossenen – rustikalen Grillhütte.  Der Pommes-Geruch  des Ausflugslokals vermischt sich mit einem etwas strengeren Geruch. Es riecht nach Tier, nach Raubtier, und so ist es also tatsächlich wahr: Tiger, echte Tiger. Sie befinden sich auf einem, mit dicken Glaswänden umbauten, nicht allzu großen Freigelände mit Treppen, Höhlen und Schlupfwinkeln. Davor stehen Menschen und starren hinein. Ein junges Pärchen überholt uns, sie mit modischer Riesentasche, Jeans und Pumps, er widerwillig. „Komm schon, wir gehen noch mal die Tiger kucken – ich lieb Tiere ja so.“

Mir wird übel und ich bin mir nicht sicher, ob ich das hier gerade phantasiere. Stehe ich wirklich inmitten von rheinhessischen Weinbergen und schaue auf eine bizarre Festung, in der sich Tiger befinden?  Kein Traum, alles real, echt und in Farbe. Und wie ich später auf der Homepage des „Tiger-Gartens“ nachlese, hat das hier – natürlich - alles seine Geschichte, seine Richtig- und Gemeinnützigkeit. Bengal-Tiger sind vom Aussterben bedroht, der Betreiber des Tiger-Gartens hat seinen ersten Tiger  vor fast 30 Jahren Jahren aus Tierliebe und zur Unterstützung des (in Konkurs gegangenen) Safariparks in Groß-Gerau hier aufgenommen. Seitdem sind weitere Tiere dazu, auch Junge auf die Welt gekommen, die in der freien Natur nur 15, hier aber bis zu 20 Jahre alt werden können.  Zuletzt wurden im Jahr 2015 zwei  Tiger aus einem Filmtier-Park aufgenommen, die von ihrer Mutter verstoßen worden waren. Von 220 Quadratmetern ist der Garten in den letzten Jahren auf 440 Quadratmeter vergrößert worden. Träger ist der Tiger-Garten Waldeck e.V.,  der sich um das Wohl der Tiere kümmert.

Das alles ist in seinem Kern vermutlich verdienstvoll und muss irgendwie finanziert werden. Mir ist trotzdem schlecht und ich stelle mir vor,  wie es wohl ist, wenn hier im Frühjahr die Bratwürste  wieder auf dem Grill brutzeln. Das Geländer des Wintergartens ist mit Lampions verziert, aus der Musikbox erschallt  „Schöne Maid“ und auf der Veranda wird Disco-Fox getanzt, während in den Vorgärtchen der Ferienwohnungen mit einem Gläschen Sekt und einem letzten abendlichen Blick auf die Tiger-Festung auf einen gelungenen Tag angestoßen wird.

Das perfekte Tiger-Erlebnis wird übrigens durch allerlei zusätzliche Serviceangebote abgerundet. Schulkinder dürfen  z. B. am Tag Ihrer Einschulung hier kostenfrei zu Mittag essen und eine kostenlose Tigerführung gibt es noch obendrauf. Ohnehin finden regelmäßig Tigerführungen statt.  Dabei – neu – kann man seit einiger Zeit die Tiger sogar „gitterfrei“ fotografieren. „Wir können nun den fotobegeisterten Tigerfans von mehreren Stellen des Geheges gitterfreien Einblick ins Gehege bieten durch den sicheren Einbau vonPanzerglasscheiben. Sie werden begeistert sein!!“  Und ich beginne zu verstehen, dass Rilkes „…und hinter tausend Stäben keine Welt…“  nur eine Vorahnung dessen war, was Tiger in dieser Welt erwartet.

Auf dem Weg zum Parkplatz begegnet uns ein junges Ehepaar, das seinen kreischenden kleinen Sohn hinter sich herzieht und alle Mühe hat, ihn zu beruhigen. „Tiiiiiiiiiiiiiiiiger“, schreit und heult er. „Tiiiiiiiiiiiiger…„Wir gehen mal auf die andere Seite,“ sagt die Mutter, „Da laufen Hühner frei herum, das ist auch lustig.“

Wir fahren nach Hause,


Kommentare

  1. "Gefährlich ist's den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn, jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn." 200 Jahre später ist nicht nur der Blick von Rilkes Panther müd' geworden. Mit der Welt zu hadern, hat mir in der letzten Woche ein guter Freund geschrieben, ist eine Vollzeitbeschäftigung.

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  2. Oh, eine Art rheinhessischer Vorhölle, wie hübsch, Kerstin, und fein den Ton getroffen, der wehtut.

    Und wann das bringen, wenn nicht zwischen den Jahren - eigentlich nimmer das und noch nicht des. Ein Spielgrund wie eine Baulücke zwischen Häusern, die demnächst geschlossen wird. So unwirklich und melancholisch wie das Ensemble aus Bismarcktum, gutbürgerlicher Küche, Grillhütte, schöner Maid und Gemütlichkeit, inkl. Ferienwohnung. Zu den Tigern kann ich nichts sagen, sie sind das inkomparable Herz des Sturms, in dem Ruhe herrscht. Zu den Hühnern eigentlich auch nur so viel, als dass sie, als gewissermaßen realstes Element im Geflecht, meine ganze Sympathie haben. Die Tiger natürlich auch. Man kann sie ja nicht klammheimlich nächtens mit Survival-Kits versehen gen Osten entspringen lassen. Oder vielleicht doch?

    Als Vollzeitbeschäftigung mit der Welt zu hadern, dafür böte diese tonnenweise Anlass. Ich rate dennoch dringend davon ab. Es gibt zu viele wunderbare Menschen, Gespräche, Begegnungen, Ideen, Bilder, Musik ...





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    1. Nachsatz 1. Die Survival Kits sollten tunlichst nicht aus den Hühnern bestehen.

      Nachsatz 2. Pure Sentimentalität. Ich selber hab heut Hühnersupp gegessen. Und bin noch nicht mal auf der Flucht. Allenfalls rekonvaleszent : - (

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  3. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich war wirklich geschockt dort oben im Weinbergsidyll vor dem Tiger-Gehege und musste das irgendwie in Worte fassen. Ja sicher, irgendwo müssen sie sein, die Tiger, wenn sie schon mal da sind. Aber dieses biedermeierliche Tanztee-, Rhein-, Tiger- und Schweinebratenambiente lässt diesen freien, schönen Tieren nicht einen Hauch von Würde. Wenn es doch wenigstens einfach nur ein freies, allein gelegenes und gut geschütztes Gehege wäre.

    Hadern mit der Welt? Nein, aber - wie auch von der Eintracht ;-)- sich immer noch von ihr erschüttern oder (in jedrr Hinsicht) überraschen lassen, das schon. Ohne Welt ist ja auch keine Lösung :) Sicher ist, dass das Alltägliche, das Glück und die Schönheit "im Kleinen" ein ziemlich großes Pfund auf dem Weg durchs Leben und Gegenmittel gegen das Hadern ist. "Denn wer sich kann im Kleinen freuen, der kann sich freuen oft und viel", hat mir mein Grundschullehrer, Herr Stockert, etwas betulich in mein Poesie-Album geschrieben, aber es stimmt. Bei Fontane war es der Zusammenhang zwischen Putenbraten (oder auch Hühnersuppe) und Menschenglück. "My heart is not weary, it's light and it's free", singt Bob. Ich hoffe, dass das ein bisschen auch für die Tiger im Tiger-Garten gilt.

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  4. Ein schöner Bericht und die Gefühle beim Anblick einer solchen Zuschaustellung von Tigern kann ich gut nachvollziehen. Besonders, wenn man weiß, dass Tiger Tiere sind, die in freier Wildbahn täglich kilometerweit laufen.

    Nebenbei wünsche ich Dir und allen Lesern dieses Blogs ein tolles 2017 mit Gesundheit, Freude und vielen Siegen unserer Eintracht.

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    1. Ja, das ist keine schöne Vorstellung und durch das SettIng wird es nicht besser. Von wegen Würde und so...

      Vielen Dank für die guten Wünsche, die ich gerne zurück gebe. Freu mich, dass auch du immer noch als Leser dabei bist - und auf die kommenden Siege :)

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