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Europapokalsiegersommerschnipsel (Teil 1): Alles fließt!


Drei Wochen und drei Tage ist er jetzt her, DER Tag. Historisch. Legendär. Für die Ewigkeit.  Aber was ist ewig? "Il  trionfo del tempo" von Händel habe ich vor ein paar Tagen im Theater gesehen. Dort gewinnt die Zeit gegen die Schönheit und das Vergnügen. Und auch der Sommer schert sich nicht um unseren Europacupsieg, verdrängt den großen Tag, nimmt Fahrt auf wie in den Jahren zuvor. Alles blüht, duftet, quakt, zwitschert (zumindest wenn man, wie ich, auf dem Land lebt) und ich arbeite, laufe, träume, schwimme, freu mich über den wilden Himmel, schaue nachts in die Sterne und versuche, mich in den Sommerrhythmus  hineinfallen zu lassen. Bei all dem merke ich, wie sich ganz allmählich auch die Eintracht-Welt in mir wieder sortiert. Im ersten Euphorie-Schock war in mir ein einziges Gefühls-Knäuel - Glück, Ungläubigkeit, Zweifel, Befürchtungen, stille Freude, Fluchtgefühle. 

Ist das, was wir grad mit der Eintracht erlebt haben, eine Art Zeitenwende? Gestern noch die Eintracht, die mit dem Jürgen, dem Jürgen, den größten Erfolg der Vereinsgeschichte erlebt hat und danach viele Aufs und Abs durchlaufen hat. Ein liebenswerter, chaotischer, wilder  Haufen, schräge Vögel,  intellektueller Überbau, bunt gemischt aus allen Ecken und Generationen, so auch meine Adlerfreunde. Bilder und Erinnerungen. Mein Opa, mein Vater, die mir schon als kleinem Mädchen von der Eintracht, von Alfred Pfaff erzählen und mich mit zum Fußball nehmen. Ein ganzes Leben, immer da.  Die Fahrt durch die - damals noch - DDR zum Pokalfinale gegen den VFL Bochum.  Aleschia, Abstiege, Aufstiege, Niederlagen, Erfolge,  Zeiten, in denen nicht viel ging, Fahrten über Land zu Vorbereitungsspielen, mir immer unvergessen: Falke, der nach dem Freundschaftsspiel in Guntersblum ein Schnitzel isst und dazu ein Colabier trinkt, ungezählte Spiele bei 5 Grad im Dauerregen im Stehblock,  die gefühlt immer 0:0 oder 0:1 endeten (zumal dann, wenn wir gegen den Tabellenletzten gespielt haben.) Coole Jungs, Übersteiger, Finalisten, Sieger, Chaoten, wild, oft angefeindet... und jetzt: un-un-un-fasslicher Europacup-Sieger - aber auch Big Player und everybodys darling... ?

Helden sind im Moment hoch im Kurs. Ein Held ist, wer sich im Ukraine-Krieg den Angreifern entgegen stellt und nicht weicht, im Extremfall den sogenannten Heldentod stirbt. Ein Held ist, wer Barca im Camp Nou besiegt, den historischen Finaleinzug unter Dach und Fach bringt, ein ewiger Held, wer den Cup nach Hause holt. Alles ist groß. Größer. Und am Größten sind wir. Befremdlich wie sich die Alltagssprache mit ihrem Pathos der Kriegsrhetorik annähert. Legendenstatus, Helden, Krieger - nun ja

Ich will kein Held sein, schon gar nicht, weil ich mit der Eintracht so lange "durchgehalten" habe. Die Eintracht gehört einfach zu mir, ist Teil meines Lebens, und für mich war sie immer groß, auch dann, wenn sie es in den Augen anderer nicht war, auch dann, wenn es wehtat (und das war nicht selten). Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich es genieße, wenn ich mit meinem Europapokalsieger-Shirt auf dem Weg ins Schwimmbad eine gewisse Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Hey, ja, genau, wir! Ätsch. Europapokalsieger! Eine Bekannte, die Mainz 05 nahe steht, schreibt mir, dass sie während des Finales gerade im Urlaub in Peru war und mit heißen Ohren den Liveticker verfolgt hat. Eine Kollegin (aktiver BVB-Fan) schreibt: "Beim Elfmeterschießen wäre ich fast durchgedreht und dann hatte ich Pipi in den Augen. " Schon strange das alles.

Wie wird die Mannschaft aussehen - wie wird sich die Eintracht verändern? Der Europacupsieg ist für die Ewigkeit, die Mannschaft, die den Pokal für uns geh9lt hat, nur eine Momentaufnahme. Kommen und gehen.. Bei allem Glück ist außerdem klar: Wir, die besten Fans der Welt, sind nicht nur die besten Fans der Welt,  sondern stehen auch im Zentrum einer Marketingstrategie.  Nicht nur bei der Trainerwahl und den Spielerkäufen hat die Eintracht in den letzten Jahren ein paar richtige Knöpfe gedrückt, sondern auch bei der Vermarktungsstrategie. Die Eintracht ist angesagt. Das ist gut, die Eintracht braucht das Geld, um sich oben zu etablieren, um sich fußballerisch zu verstärken. So ist das Geschäft. Hurra, Championsleague. "Das ist auch nötig, um die Corona-Löcher zu stopfen." "Das ist wichtig für den Verein, damit wir auch in Zukunft mithalten können." Mag sein. Mag sein. Und ich frage mich - wie schon Robert Gernhardt in Anlehnung an Adorno  - ob es ein wahres Leben im Valschen gibt? In unserem Fall: Können wir als Verein, als Community so bleiben, wie wir sind, wenn wir gleichzeitig so prima vermarktet werden (und das auch bereitwillig mittragen). Ein schmaler Grat, auf dem wir wandern - und immer schwieriger, die eigene Eintracht-Gefühlswelt mit dem großen Ganzen zu kompatibilisieren.

Auch Peter Fischer, unser Präsident, ist  zweifelsohne genau so wie er ist, aber eben auch Teil der Außendarstellung. Und da  kann er nicht mehr anders als überall, wo er steht und geht, "klare Kante" zu zeigen und  ein kontroverses Grundsatzstatement abzugeben. So ist er halt, unser Peter, immer ein offenes Wort. Er schämt sich für den englischen Fußball. Er spielt nicht gerne in einem Micky Mouse-Stadion (man könnte seinem Unbehagen über den Austragungsort vielleicht auch mit anderen Worten Ausdruck verleihen...?). Und es ist gut, dass sich auch in der Sommerpause genug Stoff findet, sich zu empören. Die UEFA verbietet, dass die Eintracht den neu gewonnenen Cup beim  World Club Dome im Waldstadion präsentieren darf. "Unfassbar." Stattdessen schwenkt der Präsident dann halt auf der Bühne die Eintracht-Fahne. Immer präsent, Eintracht zum Anfassen.

Helden können auch stürzen, das erleben wir auf die unschöne Art grad live mit. Hinti-Gate. Der feiernde Hinti, der im Morgengrauen irgendwo irgendeine Bar verlässt, der ein Bier auf ex trinkt, der ein Lied anstimmt und alles dann irgendwo im Netz wiederfindet. Der nachdrücklich demonstrierte Schulterschluss mit den Fans als Gegengewicht zum gefährdeten Status im Mannschaftsgefüge?  In der ganzen letzten Saison habe ich Hinti mit etwas Sorge betrachtet, nach meiner Wahrnehmung stand er immer leicht im Abseits bei der Mannschaftsaufstellung in den Katakomben, häufig kam er als letzter auf den Platz, der Abstand zwischen Hinti und seinem Nachbarspieler etwas größer als bei den anderen. "Du spinnst," sagten Freunde, denen ich meine Beobachtung erzähle. Oder: "Wasn Quatsch," wenn ich mutmaßte, dass Hinti nicht mehr lange bei der Eintracht spielen wird. Und jetzt also der Hinti-Cup. Falsche Freunde. Die Community bröckelt, und wir immer und bei allem stehen sich zwei Lager gegenüber:  beinharte Hinti-Follower und Hinti-Skeptiker. Nein, Hinti ist kein Nazi, das glaub ich nicht. Aber vermutlich ein ganzes Stück weniger ausgebufft und cool als er denkt.  Ich wünsche ihm jedenfalls sehr sehr, dass er für sich einen guten Weg findet - auch falls dieser Weg ihn aus Frankfurt wegführt.

Anderes Thema: In London stehen nach 40 Jahren  Pause Abba zum ersten Mal wieder gemeinsam auf der Bühne. Nicht in echt, sondern als lebensechte Avatare in einer Drei D-Bühnenshow.  Was ich darüber lese, versetzt mit einen Gruselschauer. Sie scherzen und lachen mit dem - echten - Publikum, singen ihre größten Hits, tanzen, tragen knallbunte Kostüme und sind auf ewig konserviert in ihrer makellosen Jugendlichkeit.  Das Premierenpublikum ist begeistert. Wer braucht da noch Soma? Wir bauen uns unser Schein-Glück mit anderen Mitteln. Avatare können vielleicht ja auch ein Modell sein für den Fußball der Zukunft? Das authentische Erlebnis nicht mehr gekoppelt an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, vielleicht nicht einmal mehr an reale Akteure oder Mannschaften? Mit FIFA funktioniert das ja schon ganz gut. Schon bei der WM in Südafrika hatte ich den - damals nicht ganz ernst gemeinten - Verdacht, dass die Zuschauereinblendungen nicht live im Stadion, sondern irgendwo in einem Studio gefilmt worden seien. Und wer weiß, welche Bilder uns (also diejenigen, die sich das tatsächlich vor dem Fernseher antun werden) bei der WM in Katar erwarten werden?

Einen leicht unwirklichen Touch hat auch das 9-Euro-Ticket, dessen schier unbegrenzte Möglichkeiten ich erst nach und nach begreife. War das so gemeint?  Norwegen, Tschechien werben für den billigsten Deutschland-Urlaub, den es je gab. Die Zeit stellt die schönsten Regionalbahnstrecken Deutschlands vor - durch die schwäbische Alb, in die Alpen, durch die Lüneburger Heide, ans Meer. Klingt verlockend... Einen Monat im regionalen Netzwerk deutschlandweit heißt ja auch: Ich kann von Regional-Netzwerk zu Regional-Netzwerk hoppen und mich auf diese Weise von Frankfurt bis, sagen wir, Sylt vorwärtsbewegen.  Dort ist man,  wie es heißt, in heller Aufruhr: Hilfe, die Ballermänner, Kiffer und Punks (welche Punks???) kommen und stören unser exklusives Insel-Idyll? Und was tun Ballermänner, Kiffer und Punks, wenn sie schon mal so nett eingeladen werden? Richtig - sie kommen. Wenn die Züge an einigen Tagen besonders voll sind, kann das natürlich auch andere Ursachen haben. Carolin Kebekus mutmaßt: Es könnten Eintracht Frankfurt-Fans sein, die zu einem Auswärtsspiel unterwegs sind.

"Aber wo bleibt mittlerweile die Wirklichkeit?" Das fragt sich eine der Protagonistinnen im Buch "all passion spent" von Vita Sackville-West, das ich gerade gelesen habe. Es spielt Anfang des 20. Jahrhunderts, also in einer Zeit, in der es noch keine sozialen Medien, kein Internet und zumindest noch keine so benannten Fake-News gab. Aber auch damals schon verhalten Menschen sich nicht so wie sie sind, sondern so wie sie denken, dass sie es tun sollten oder so, wie sie wahrgenommen werden möchten. Sie übernehmen eine Rolle, in der sie aufgehen, und nur manche Merken, dass ihnen dabei etwas ziemlich wichtiges verloren geht - sie verlieren sich selbst.

Back to reality, zurück ins Schwimmbad. Das funktioniert wieder wie vor Corona - ohne Zeitslot, ohne Online-Ticket - einfach hingehen. Liegt es am bisher doch häufig kühlen Wetter, dass es trotzdem so leer ist? Sind alle mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs? Letzte Woche war ich um die Mittagszeit komplett allein, einziger Mensch im Wasser und auf dem Gelände. Real, aber irgendwie...unwirklich. Nur ich und zwei rauchende Bademeister. Wie würde Patti Smith (die morgen Abend in Frankfurt auf der Bühne stehen wird) sagen: Alive, fucking alive. Oder ist das Wirkliche gar nicht wirklich? (Zumindest bin ich absolut sicher, dass wir den Europacup geholt haben - steht ja auf meinem Europapokalsieger T-Shirt...)

Kommentare

  1. *Notizanmichselbst* Unverzüglich einen Avatar ordern. Amazon Prime, egal, Hauptsache schnell, mit der Drohne durchs offene Fenster geliefert, wenns anders schneller nicht geht. Ohne Affatare läuft nix mehr heutzutag, schon garnet in meinem Alter. Also her mit dem Ding.

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    1. !!! -> Abba -> Ava -> Affa, jaja.
      Sackville-West: Grande Dame. Hat sich vor hundert Jahren Freiheiten genommen, die heutzutage in weiten Teilen der USA weggenommen werden.
      Ausgesprochen diva-affin (s.oben).

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