Direkt zum Hauptbereich

Wir!


Mittwoch, der 18. Mai 2022. Nein, ich bin nicht in Sevilla. Und ich bin auch nicht beim Public Viewing im Waldstadion (obwohl ich mir in zähem Kampf mit der Registrierungssoftware ein Ticket erkämpft habe). Ich habe zum Glück frühzeitig registriert, dass dort nicht einfach zusammen geschaut und mitgefiebert, sondern eingeheizt werden soll. Schals nach oben. Seid ihr bereit? Och... nö....

Flashback

Rückspiel gegen Westham im Waldstadion.  Ich habe die Hoffnung, heute ein richtiges Fußballspiel zu sehen, und weiß schon nach einigen Minuten, dass sich das nicht erfüllen wird. Jede Ballberührung, jeder Ballkontakt eines West Ham-Spielers wird niedergepfiffen und niedergebrüllt. Das ist Leidenschaft. Das ist Euphorie. Wixxer. Arschloch. Stinkefinger. Verpiss dich. F*tze. (Hä?) Und nochmal: F*tze.

Halbzeit. Ich sitze mit einem Becher Wasser auf einem Mäuerchen hinter der Haupttribüne. "Völlig losgelöst von der Erde" klingt es aus dem Stadioninnern und in mir tobt ein Gefühlswirrwarr. Ich bin gleichzeitig leer und glücklich, ängstlich und verwirrt. ich weiß nicht, was ich fühle. So viele Jahre mit der Eintracht, so viele Wendepunkte, Hoffnungen, Glücksmomente, Enttäuschungen. Immer da, immer Teil meines Lebens und das, was da gerade passiert, müsste mich hin einen Glücksrausch versetzen. Täglich sehe ich in Videos, Podcasts, Posts wie UNFASSBAR euphorisiert alle sind. Pausenlos unter Strom. Im siebten Himmel. Schon im Flieger nach Sevilla. 10.000. 30.000. 100.000.  Und ich, still und stumm. Was ist mit mir? Verrate ich die Eintracht, meine Eintracht?  "Denn im Wald da spielt die..." "...Eeiintracht." singe ich leise und stehe auf, die Halbzeitpause ist vorbei. Jetzt, jetzt, machen wir es wahr  - vor uns liegen noch 45 Minuten. Es wird nicht mehr viel passieren. Da bin ich mir sicher. Zehn  Spieler aus West Ham werden das Spiel nicht mehr herumreißen. Nicht heute. Nicht hier.

Der Moment des Schlusspfiffs ist wie ein Dammbruch. Auf dem Video, dass ich mir inzwischen mehrfach angesehen und gehört habe, verläuft die Durchsage des Stadionsprechers synchron zu der Welle von Menschen, die aus der Nordwestkurve auf das Spielfeld schwappt. "Die Eintracht steht am 18. Mai im UEFA-Cup Finale" ....es ist wie eine Woge, die über uns, die über das ganze Stadion schwappt und ich schwappe mit, schreie, springe, reiße, stehe, mit in den Himmel gerechten Armen und kann nicht verstehen, was ich sehe, was ich fühle, es reißt mich einfach mit sich.

Flashbackende

Zurück zum Spiel in Sevilla.

Seppel. Seppel. Gefasst. Ruhig. Entschlossen. Überall, er ist überall. Mit Turban. Er  ist überall, immer im Zentrum,  stopft Löcher, kurbelt an, hilft überall aus, hinten, verteilt vorne die Bälle, wechselt die Seiten.  Das Tor der Schotten, die jubelnden Fans, glücksstrahlend, zuversichtlich. Der hörbare Schock im Stadion. Und dann wieder anschwellende Gesänge. Wir haben die Eintracht im Endspiel gesehen. Wir sehen, wir seeeeeeeeeeeeehen die Eintracht im Endspiel. Und dann ist er wieder da. Bämm. Das Phantom, der kleine, entschlossene Mann, der im Europacup zu dem Spieler geworden ist, der in ihm geschlummert hat. Beim Spiel in Barcelona habe ich es ihm im Gesicht angesehen. Er wollte. Er wollte zeigen, was er kann und das er kann. So entschlossen. So fokussiert. Was hat er uns in der zurückliegenden Bundesligasaison für Nerven gekostet, immer wieder, immer wieder, knapp vorbei, drüber, vorbeigerutscht, verzogen, einen Schritt zu spät und jetzt....- vom Chancentod zum... Aber soweit sind wir noch nicht. Jetzt erstmal Verlängerung. Die Zeit der Krämpfe. Nicht nur auf den Rängen, auch auf dem Rasen...Wasser, Wasser.... Knauff, der zwischendurch auf dem Zahnfleisch ging, hat jetzt die zweite oder dritte Luft. Wie wunderbar, dass auch Hasebe mit auf dem Platz steht, ach was, steht, rackert. Jakic ist noch frisch, macht Dampf. Nein, da passiert nichts mehr. Mist, es läuft raus auf ein Elfmeterschießen. Hilfe. Nein, nicht. Nicht jetzt noch. Der Ball ist drin. Nein, doch nicht.. Trapp. Keviiiiiiiiiiiiin... hat ihn mit der Fußspitze noch rausgeholt. Kevin Trapp. Kevin Trapp. Und dann ist das Spiel wirklich vorbei.

Das Elfmeterschießen verbringe ich in Hörweite zum TV im dunklen Garten. Hände am, über dem Kopf. Ich kann, kann, kann es nicht mit ansehen. Höre von Innen wer antritt. Höre den Jubel nach den Treffern. Mein Mit-Adler souffliert... Trapp hält... Den letzten, den schaue ich mir live an...

So viele Geschichten, die dieses Spiel auf dem Platz geschrieben hat. Aaron Ramsey, der eingewechselt wird, um seine Karriere mit einem Triumpf zu krönen, der zum Elfmeter antritt und der dann anläuft, genau in die Mitte ...Trapp hält. Unser Christoph Lenz, der oft verletzt war seit seinem Wechsel zur Eintracht und es bisher nicht in die Stammformation geschafft hat. Trotzdem klaglos, immer da. Bei jedem seiner Einsätze lieferte er eine ordentlich Leistung. Und jetzt ist er derjenige, der zum so wichtigen ersten Elfer anläuft. "Ich wollte den ersten oder den letzten", gibt er später zu Protokoll. Er trifft. Eisern. Logisch. Und dann dieser unglaubliche, kleine, zähe Kolumbianer, der sich den Ball zum letzten, zum entscheidenden Elfer greift. Ganz ehrlich: Ich hätte mich nicht getraut, ihn zuletzt schießen zu lassen. So viele Elfer, die er schon versemmelt hat. Und jetzt. Er steht... er fixiert das Tor... er läuft an... er weiß, dass er trifft. Und er trifft. Er trifft. Er trifft. Glasner wusste genau, dass er ihm vertrauen kann. So ist er, der Oli.

Bilderflut. Jubel. Menschen in weiß, die sich weinend in den Armen liegen.  Schreien, hüpfen, sich auf die Schultern klopfen, schütteln, Fahnen schwenken. Spieler, die über den Rasen kugeln, der divende Glasner. Tieftraurige Schotten, ein kleiner Junge, heulend in Arm seines Vaters. The winner takes it all. Und Gewinner sind wir. Wir. Die Frankfurter Eintracht. Im Stadion erhebt sich die Kurve zum Europalied und ich stehe mit erhobenem Schal zuhause vor dem Fernseher und singe mit. Laut, so laut ich kann. Das ist alles groß. So groß.

Nachts. Draußen. Ich bin still. Kann nichts mehr sagen, kaum etwas denken Nur sitzen. Kaltes Bier. Frische Luft. Ein Frosch quakt. Wir. Sind. Europacup. Sieger.

Der Morgen danach. Benommen. Bematscht. Übernächtigt. Ich sitze auf der Bettkante und merke wie mir jetzt, am frühen Morgen, die Tränen die Wangen herunterlaufen. Wir. Sind. Europacup. Sieger. Immer noch und für immer. Tausend Nachrichten, Fotos, Videos aus allen Richtungen auf meinem Handy.

Auf Instagram, Facebook, Twitter sehe ich all die bekannten und viele tausend andere Gesichter. Glücklich. Glücksstrahlend in der Hitze von Sevilla. Grenzenlos. Unglaublich. Wahnsinn. Und ich hier ganz weit weg. Am Rande ist auch ein schöner Platz...

Ankunft der Mannschaft am Flughafen. Der Korso durch die Stadt. Charly. Tony. Uwe Bein. Da ist Raffa. Da Keviiiiiiiin. Seppl, dem mein Herz entgegenschlägt, seit ich ihn zum ersten Mal in einem Spiel der U 21 Nationalmannschaft in (!) Offenbach gesehen hab, Seppl und Sebi,, damals noch als Duo. Immer mittendrin, der Hinti, den ich ein wenig ängstlich beobachte und dem ich von Herzen wünsche, dass er für sich die Kurve bekommt -  auch dann, wenn die ihn weg von uns führen sollte. Menschentrauben. Selfies. Immer noch geballte Fäuste. Schreien als gäbe es ein kein morgen. Immer wieder Interviews mit noch einem und noch einem Helden.. "Die Menschen wollen uns in die Augen sehen." Vielleicht wollen viele auch einfach dabei sein? Party machen? Am Römer jedenfalls wird Party gefeiert. Ballermann-Stimmung. Seid ihr bereit für die Mannschaft? Yeah... Nur Peter Feldmann hat noch etwas dagegen, weil mit ihm im Kaisersaal der - so said - Eintracht-Fan durchgeht. Klar, mein Pokal. Und klar, die Namen der Spieler muss ich erst noch üben. Makato Hasabi. Peinlich. Jeder halbwegs aufgeweckte Dreijährige bekommt das hin, der ist aber auch nicht Bürgermeister.

Der 18. Mai 2022,  der Tag, an dem die Eintracht den Europapokal zurück nach Frankfurt geholt hat. Wie wird sich mein persönliches Narrativ in der Erinnerung anhören? Die Maus beißt keinen Faden ab: Ich werde zu den vier oder fünf Menschen gehören, die von sich behaupten können, dass sie nicht vor Ort waren. Oder war ich doch? Muss nochmal drüber nachdenken.

***

PS: Europacupsieger. Wir! - Ich freu, freu, freu mich auf die neue Saison!

*** Der Papp-Eurocup stammt von einer Choreo aus der Funkel-Zeit - hab ihn damals mit aus dem Stadion nach Hause genommen und aufbewahrt :)

Kommentare

  1. Ja, Kerstin, freimütig gestehe ich ein: ich weiß, dass wir *Duweißtschonwas* sind, aber richtig angekommen ist es bei mir noch immer nicht. Erschrecke immer wieder aufs Neue, wenn ich was von "SpielgegenReal" lese (wieviel t. Knete müssen wir dafür eigentlich abdrücken? Wie, nix? Die schütten uns damit zu am Ende? Ach so ...). Championsleague. Wir?! Ach so ...

    Deine Worte zu Hinti: wahrlich prophetisch. Schade, und gut so. Credo quia absurdum.

    Der Seppl, oh ja! Der Trapp, aber hallo. (Gestehe hiermit auch ungern ein, wenn ich schonmal dabei bin, dass mich die Rückholaktionen beider nicht vom Hocker gerissen haben. Ich sags ja, nix versteh ich vom Fußball, vom Fußball versteh ich nix. Garnix.)

    Die Elfer unserer Jungs aus der zweiten Reihe: erstklassig, episch, adleresk. Ich war zuvor sicher: wenn es 11-m.-Schießen gibt, wird es für uns ein Debakel, selbst wenn es gegen ein Team von der Insel geht (s. oben). Was sag ich: die Maschine, die zwaa Samurai, der junge Ex-B-Dortmunder, alle, alle, alle.

    Was dagegen ist eigentlich überhaupt ein Oberbürgermeister? Keine Ahnung, auch hier. Was hingegen ein kleiner, zäher, 100% fokussierter und entschlossener Kolumbianer ist - das weiß ich. Jetzt weiß ich's.

    Fühle sich ein/e jegliche/r, der/die irgendwie in die Nähe kommt, umarmt. Warum? Keine Ahnung. Mir ist einfach so, oder um es mit dem großen Sohn der Mitte Europas zu sagen: mir ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen. Mindestens.

    Zum besagten Anlass kann ich freilich nur mit den Worten eines Kirchenvaters enden. Als man Augustinus fragte, wie das eigentlich so sei, Eurobbabogaaalsieger zu sein, soll der große Mann geantwortet haben: wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Fragt mich aber jemand danach, so weiß ich es nicht.




    AntwortenLöschen
  2. Oh, wie konnte es nur passieren, dass mir dein schöner Kommentar durchgerutscht ist. Bitte entschuldige... So geht es halt, wenn man immer noch nicht weiß, was man antwortet, wenn keiner fragt, und wir immer noch nachts schweißgebadet hochschrecken und immer wieder neu grübeln, ob und wie und warum und wer überhaupt, aber eben doch wissen, dass!!! Wir. Sich kannibalisch wohlfühlende Adler-Säue. Genau!

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Die nächste Strophe vom alten Reisbrei

Am Samstagabend höre ich im ZDF Sportstudio die Vorankündigung für das Spiel am Sonntag im Waldstadion. „Hannover kann morgen auf den zweiten Tabellenplatz vorstoßen“, verkündet Katrin Müller-Hohenstein. Tatsächlich? Was Sie nicht sagen. Und die Eintracht? Hey – hallo, das ist unser Heimspiel, und wir werden es gewinnen, weil nämlich dann wir es sein werden, die zu Hannover und zur Spitzengruppe aufschließen. Capisce? Und tatsächlich. So machen wir es. Impressionen vom Spiel: Patrick Ochs, der in der ersten halben Stunde auf der rechten Seite herum mannövert als habe er tatsächlich vor, was er vorher verkündet hatte: Sich festbeißen – und von dem in der zweiten Halbzeit nichts mehr zu sehen ist. Halil Altintop, der (auch in seinem eigenen Sinn) zur Halbzeit hätte ausgewechselt werden müssen, und von seinem Trainer, der voll hinter ihm steht, eine viertel Stunde vor dem Ende zum Abschuss freigegeben und – sichtlich um Fassung bemüht – regelrecht vom Platz gepfiffen wird. (Ja, ja.

Kleines Fußball-ABC - Heute "U" wie "Unterschiedsspieler"

Unterschiedsspieler, der (pl. (selten die); fußballneudeutsch für einen Spieler, der – wie der Name schon sagt – den Unterschied machen und ein Spiel entscheiden kann. Bsp .    → Rebic, Ante (Eintracht Frankfurt) , der in der ersten Runde des DFB-Pokals 2019/20 “ den aufmüpfigen Drittligisten Waldhof Mannheim quasi alleine in die Knie zwang. “ In der Regel ist der → Unterschiedsspieler ein Offensivspieler, aber auch Defensivspieler „mit einer starken Technik und einem guten Gespür für Räume imOffensivspiel“  können Unterschiedsspieler sein  -   Bsp.   → Baumgartner, Christoph TSG Hoffenhei m) , → Kimmich, Joshua (FC Bayern München) oder  →Kostic, Filip (Eintracht Frankfurt), der für seinen Trainer →Adi Hütter derzeit „der absoluteUnterschiedsspieler“ ist. Auch Torhüter  können den Unterschied machen ( Bsp. Neuer, Manuel, FC Bayern München ), was als Beleg dafür gelten kann, dass auch Spieler, die nicht der Mannschaft von →Eintracht Frankfurt angehören, →Unterschiedsspieler sein kö

Hans-Dieter "Fips" Wacker - ein Fußballerleben

Es ist ein paar Monate her, dass ich für diesen Blog im „Kleinen Fußball-ABC“ einen eher satirisch gefärbten Beitrag zum Thema  Nachwuchstalente verfasst habe. Es war Kid Klappergass, der das Thema in einem Kommentar in ernsthaftere Bahnen führte: Es gebe nicht viele große Eintracht-Talente, denen er nachtrauere, aber eines davon sei ganz gewiss Fips Wacker. Fips Wacker? Diesen Namen hatte ich noch nie gehört und machte mich auf die Suche nach ein paar Informationen. Es war nicht viel, was ich im Netz aufstöbern konnte – aber was ich fand, machte mich neugierig. Die „Spur“ führte zum Heimatverein von Fips Wacker, der SKV Büttelborn und wie es der Zufall so will: Einige Wochen später sollte in Büttelborn ein Spiel der Alten Herren – der  Old Boys   gegen die Eintracht-Traditionsmannschaft ausgetragen werden. Wenn für Hans-Dieter Wacker alles so gelaufen wäre, wie es hätte laufen können, hätte er in diesem Spiel vielleicht eine Halbzeit lang für die Eintracht und eine für den SKV auf de