EM- und Sommerschnipsel (1): Neue Varianten, immer in Balance

Den folgenden Text habe ich gestern (Samstag) Nachmittag geschrieben. Kurz vor Sieben war ich fertig und wollte ihn veröffentlichen. Dann waren da die Nachrichten aus Kopenhagen, der Zusammenbruch von Christian Eriksen, die Angst vor dem ungewissen Ausgang - und da war auf einmal der Auftakt für meine EM-Schnipsel unwichtig und obsolet. Zum Glück, zum Glück, zum Glück gab es noch gestern Abend und, deutlicher noch heute morgen, Entwarnung, und deshalb möchte ich den für gestern geplanten Eintrag also heute rückwirkend einstellen.

Wir spulen zurück. Es ist Samstag, der 12. Juni, 18.30 Uhr.

Freitag, 11.6.2021

"Wollen wir eine EM Tippgruppe machen?" Als ich diese Frage vor zwei Wochen ein paar Freunden gestellt habe, war rundherum nur müdes Achselzucken. "EM? Weiß noch nicht mal, ob ich mir da was anschaue..." "EM - was ist das?" So oder so ähnlich waren die Kommentare. Gestern, kurz vor Anpfiff des ersten Spiels,  dann die Kehrtwende... Vielleicht ja doch... Am Ende haben wir uns fliegend dazu entschlossen, beim Kicker EM-Coach mitzumachen. Da mein Mit-Adler und ich gerade auf dem Rückweg von einem Kurzbesuch im Schwäbischen waren und auf der Autobahn an menschenleeren Raststätten vorbeirauschten, bot es sich an, kurz zu halten und zur analog-mentalen Einstimmungsunterstützung einen EM-Kicker zu besorgen, und sich rudimentär auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten.  Sommer, Sonne, wolkenverwehter Himmel, und im Hintergrund die EM als fußballerisches Grundrauschen. Auf einmal fühlte sich alles fast normal, wie "früher" an. 

Also fast. Umgeben von parkenden LKW sitzen wir mit einer Thermoskanne Kaffee und mitgebrachten Butterbroten auf einem menschenleeren Raststättenparkplatz und fassen kurz zusammen:   Frankreich als Topfavorit, Italien, Spanien, vielleicht auch Belgien und England, vielleicht auch Kroatien, im erweiterten Titelkreis. Und was ist mit "der Mannschaft", mit Jogis Jungs? In Bierhoffs Marketingplan ist zu Jogis Abschied ein EM-Titel vorgesehen, aber nur 7% der Deutschen wollen daran glauben. Die pathetischen Videobilder mit denen die Spieler in kurzen Clips vorgestellt werden, verheißen nichts Gutes: Ernster, konzentrierter Blick vor kahler Wand. Hand aufs Herz. Faust geballt. Jogi ist in Balance. Das Training der Mannschaft ist in Balance. Jetzt gilt es, die Balance auch zwischen Offensive und Defensive herzustellen.  Alle kennen ihre Verantwortung und wollen "für unsere Nation alles abrufen, was in unserer Macht steht." (Jogi Löw)  Die Mannschaft. Die Nation. Starker Tobak. Mats Hummels ist überglücklich und die Mannschaft ist heiß. Wir werden sehen. 

Jede Menge Platz gibt es für Überraschungen. Wales, das Überraschungsteam der letzten EM ist wieder dabei, statt Island dieses mal Finnland (mit  "unserem" Lukas) als EM-Debütant. Und auch der Ex-Weltmeister-EM-Titelaspirantenbesieger Nord-Mazedonien spielt mit und lauert auf seine Chance. Die Gruppenkonstellationen verheißen spannende Vorrundenspiele, allen voran die deutsch-französische Gruppe, aber auch die englische Gruppe (mit Kroatien), die Spanier (mit der Slowakei und Polen) und die Hinti-Gruppe mit Holland und der Ukraine...

Auch im Radio werden wir auf das EM-Auftaktspiel am Freitagabend eingestimmt, durch Ralf Töpperwien, der im Experten-Call  telefonisch zugeschaltet ist. Er ist gut gelaunt und versteht nur zu gut, warum sich in Deutschland im Moment keine Socke für die EM zu interessieren scheint und fast niemand der deutschen Mannschaft den Titel zutraut. "Wir sind doch eine Turniermannschaft..." wirft der Moderator ein. "Ach was für ein Quatsch", schwartet Töppi ihn ab, "das ist doch ein alter Hut."  Ob er noch irgendwo Spiele kommentiert? Klar, moderiert er noch, gleich heute Abend ein kleines Public Viewing auf der Dachterrasse eines Hotels im Auftrag eines großen Unternehmens. Seine EM-Favoriten? "Nord-Mazedonien und  Finnland." Moderator: "Du willst uns verarschen..." Wieso, sagt Töppi, "ich bin doch euer Experte und da muss ich doch Bescheid wissen. Habe schließlich auch vorhergesagt, dass die Eintracht auf Schalke klar gewinnt."  Also, mich überzeugt das.

Ein echter Burner ist auch das Maskottchen der EM. Es heißt Skillzy und sieht aus wie eine Mischung aus...mmh...Jupp Derwall und einem Alien. Wer um des Himmelswillen hat sich das ausgedacht? Und wer soll es sich irgendwo hinstellen oder zum Knuddeln wünschen? Scharen kleiner Kinder, die nachts Alpträume bekommen. Was soll das sein - ein "Straßenfußballer" ? Ein durchgeknallter Trainer, der seine Spieler zu hundert Sprints mit Medizinbällen am Todeshügel verdonnert? Und er passt so super ins Hier und Jetzt. In blauer Retro-Trainingshose mit abstehenden Ohren und Glubschaugen steht er für, ja was eigentlich, das Beste im Mann bzw. Fußballer und  für die Weltoffenheit des Fußballs und der UEFA. Ja. Genau. Dafür steht er.

Samstag, 12.6.2021

Die indische Corona-Variante heißt (zum Glück) seit einiger Zeit Delta und der in der letzten Saison  überraschend  so supererfolgreiche VFB Stürmer Wamangituka heißt jetzt Silas bzw. -  Wikipedia weiß es genauer -"Silas Katomapa Mvumpa known simply as Silas and formerly as Silas Wamangituka Fundu ". Formerly known, das ist schön. Da nützt es auch nix, dass wir jetzt alle in den letzten Monaten den Namen geübt und es gelernt haben, ihn fast fehlerfrei auszusprechen. Offen bleibt die Frage: Gibt es irgendwo einen echten Wamangituka? Und by the way kann ich es euch jetzt ja endlich sagen: Mein echter Name ist Hildegard Klotzbüchner. 

Die Freibäder haben wieder geöffnet und das Procedere - Zeitfenster online buchen, Maske beim Herumlaufen, Einbahnstraßenschwimmen aus dem letzten Jahr ist inzwischen perfekt eingeübt. Neu ist die Teststation, direkt gegenüber dem Eingang zum Schwimmbad, die das Szenario abrundet. Rechts also zwei Zelte, vor denen Tische und mehrere Menschen im Ganzkörperschutzanzug stehen, links leicht bekleidete Menschen mit Flipflops, Sonnenbrille, kurzen Hosen und Sonnenhütchen auf dem Weg ins Schwimmbad. Mmh. Wie auch im letzten Jahr, werden im Becken einzelne Gegen-den-Strom-Schwimmer  sofort gesichtet und ermahnt. "Du bist 18 - ich bin 22." sagt ein kleiner Junge am Beckenrand zu seinem Freund und ich verstehe sofort, dass er nicht das Alter, sondern die Inzidenz des Wohnortes meint. Praxisbezogenes Lernen. 

Auf dem Heimweg vom Schwimmbad fahre ich durchs rheinhessische Hinterland. Links und rechts der Straße weite Wiesen, Felder, Himmel. Die Bäume und Wiesen sind durch den Regen in diesem Jahr grün so grün, an den Wegrändern leuchten rote Mohntupfen. Am Horizont fährt ein Motoradfahrer zwischen Erde und Himmel. Seine Kontur zeichnet sich scharf am milchigblauen Horizont ab. 

Vor einzelnen Häusern wehen  - EM-Müdigkeit hin oder her - die Schlandfahnen an den Fahnenmasten in den häufig kahlen Schotter-Vorgärten. 

Dann wollen wir mal. Die "Azzurri" (hach, Kicker) haben bereits gestern ihre Mitfavoritenrolle bestätigt  und  ihr Auftaktspiel gegen die Türken glatt gewonnen,  die "Eidgenossen" verpassen gegen "die Drachen" (nochmal hach...) den Sieg. Lukas wird jetzt gleich in wenigen Minuten gegen "Danish Dynamite" den Kasten dicht halten, wetten?  Und was machen wohl heute Abend die Pommes gegen den Igor?

PS: In unserer EM-Coach-Gruppe hat übrigens keiner auf Deutschland getippt. Aus im Achtelfinale lautet die mehrheitliche Prognose. So gesehen, spricht eigentlich alles dafür, dass "die Mannschaft" ein erfolgreiches Turnier spielen wird...

***Fortsetzung folgt***