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Bei den Oplern in Rüsselsheim

(Direkt nach dem Spiel  fast fertig verfasster, aber erst nachträglich  zur Vervollständigung der Annalen am 30. Oktober  eingestellter Eintrag)

21. Oktober. Dienstag. Testspiel der Eintracht in Rüsselsheim,  16 Uhr ist mitten in der Woche wirklich eine verdammt ungünstige Anstoßzeit, eigentlich versinke ich derzeit in Arbeit, aber hey – Rüsselsheim ist nur einen Sprung weit weg und der Besuch beim Spiel für mich eigentlich ein Muss.  Nicht ganz wie geplant, aber immerhin fast kommen wir um kurz nach halb vier los. Fast logisch,  dass wir zu spät kommen, aber zum Glück bin ich ortskundig.

Besuche in Rüsselsheim sind für mich immer so etwas wie eine Reise in die Vergangenheit. Es zieht mich hin und auch wieder nicht  und ich muss mir einen kleinen Ruck geben, weil es im Magen, mehr noch im Herz ziept, wenn ich herkomme.  Hier bin ich geboren und aufgewachsen.  Seit dem meine Oma, mein Opa und schließlich auch mein Vater gestorben sind, bin ich nur noch selten hier.

Das Stadion am Sommerdamm war früher „mein“ Stadion,  hier war ich als kleines Mädchen mit meinem Opa  bei jedem Heimspiel der Opler, auf dem Platz daneben habe ich ein paar Jahre mehr schlecht als recht Hockey gespielt. Hier im Stadion  bin ich bei den Bundesjugendspielen glorreiche 13,8 über 100 Meter gelaufen.

Ich kenne den geraden Weg, aber auch die Schleichwege zum Stadion. 5 Minuten  nach Anpfiff stehen wir mit ein paar weiteren Spätankömmlingen vor dem Kassenhäuschen. Der Eintritt kostet nur 5 Euro und die Tickets sind fast schon spektakulär schön.  Früher habe ich hier auch Spiele erlebt, bei denen richtiger Andrang herrschte.  Lange Schlangen an der Kasse (Frauen, Rentner  und Kinder zahlen die Hälfte), Opa und ich mitten drin und da, da entdecke ich im Getümmel ein bekanntes Gesicht.  „Kuck mal Opa, da ist ja der Grabowski“ – es war dann aber leider doch nur Holger Obermann.  Weit, weit, weit von hier in einem anderen Land. 

Mein  Vater, der ein begabter Fußballer war, hat hier bei den Oplern das Fußballspielen gelernt. Sein Trainer Euler, der – wie ich jetzt weiß bis in die 1960er Jahre mehrere Generationen Fußballer in Rüsselsheim geprägt hat – war für ihn bis zu seinem Lebensende  das Idealbild eines Trainers.  „Was hätte dazu wohl der Trainer Euler gesagt?“ Ist bei uns bis heute  eine Art geflügeltes Wort. Oder: „Beim Trainer Euler wär das nicht passiert.“  Bei der Beerdigung meines Vaters saß in der Kirche in der letzten Reihe eine Gruppe  älterer Herrschaften, die ich nicht kannte.„Das sind die Euler-Buben“, erklärte mir ein Onkel und es hat mir fast die Schuhe ausgezogen, dass der für mich bis dahin immer nur imaginäre Trainer Euler tatsächlich aus Fleisch und Blut war. Auf seiner Wolke hat mein Vater sich sicher sehr darüber gefreut, dass seine ehemaligen Mannschaftskameraden ihm die letzte Ehre erwiesen haben.

Die Opler, die heute in der Kreisoberliga spielen, haben weitaus bessere Zeiten hinter sich.  Anfang der 1960er in den Reihen des SC Opel:  Erich Bäumler der als Stürmer  1960 mit der Eintracht die Meisterschaft und das Pokalendspiel in Glasgow erreichte, verletzungsbedingt aber nicht  spielen konnte.  Die große Zeit des SC Opel Rüsselsheim war  in den 1960er und 1970er Jahren – Hessenmeister, Aufstieg in die Regionalliga Süd. Jahn Regensburg, SSV Reutlingen, 1. FC Nürnberg, 1860 München, Spielvereinigung Fürth, Freiburger FC, Hessen Kassel, Karlsruher SC hießen damals  z.B. die Gegner.  Fast hätte der SC Opel es Anfang der 1970 der geschafft, auf den Zug Richtung neu etablierter zweiter Bundesliga aufzuspringen, aber dann kam es ganz anders. Der Beinahe-Konkurs, tiefer Fall und Absturz bis ganz nach unten. Heute tragen die Opler ihre Heimspiele nicht mehr hier am Sommerdamm, sondern auf dem Platz am Ostpark aus, ganz da in der Nähe, wo ich früher zuhause war.

Es fängt an zu regnen. Die Menschen auf der Gegengerade verschwinden unter Regenschirmen. Schnell mal orientieren. Oopsala,  es sind erst zehn Minuten gespielt und es steht schon 3:0 für die Eintracht.  Wer steht denn alles auf dem Platz. Aha, Alexander Madlung darf (oder muss?) ran, im Tor steht natürlich Timo Hildebrand. Ich sehe Martin Lanig, Sonny Kittel. Johannes Flum ist dabei, Marc Stendera. Links hinten David Kinsombi, rechts Timothy Chandler. Und da ist ja auch Vaclav Kadlec.

Die letzten Spiele der Eintracht, die ich hier in Rüsselsheim erlebt habe, sind noch gar nicht so lange her, oder doch, wie man’s nimmt. 2004 gegen den TV Haßloch, eines der ersten Spiele von Alex Meier im Eintracht-Trikot, („Das wird einer!“, dachte ich)  und zwei Jahre später, bei ähnlichem Wetter wie heute, mit zwei jungen Mit-Adlern ein 18:1 zum hundertjährigen Bestehen der Opler, die damals noch in der Bezirksliga spielten.

Über dem Stadion hängen dicke Wolken, Blätter wirbeln durch die Luft. Auf dem Platz entwickelt sich ein munteres Spiel. Muss ich sagen, dass die Eintracht drückend überlegen ist? Trotzdem kommen die Opler vereinzelt  vor unser Tor und zu Chancen.  Timothy Chandler wird ein, zwei Mal   - „Bass mer acht uff den Vierer“ – böse von dem – genau - kleinen Vierer der Opler überrannt  und abgehängt – ui, – entweder ist der richtig schnell oder Chandler dann doch eher langsam.  Ein bisschen hüftsteif und – so kommt es mir vor – betont lässig: Alexander Madlung, der den ein oder anderen Ball in die Füße des Gegners spielt, aber insgesamt  solide und wehrhaft steht,  zwei drei schöne Angriffe mit langen Seitenwechseln a la Meier einleitet und selbst ein Tor erzielt.

Was auffällt: Die Fehler, die wir hier „im Kleinen“ machen, sind die gleichen, die uns auch in der Bundesliga unterlaufen. Zumindest unsere Fehler haben System – das ist doch endlich mal eine gute Nachricht an alle Systemsucher. Das erste Tor des SC Opel fällt aus einer Angriffssituation der Eintracht. Wir sind in der Vorwärtsbewegung, ein ungenauer Pass führt zum Ballverlust, alle sind in der verkehrten Laufrichtung, bis wir uns gedreht und nach hinten orientiert haben, haben die Gelbschwarzen das Spielfeld mit einem langen Pass überbrückt,  ein Opel-Spieler hat rechts freie Bahn, zieht  nach Innen,  ein schöner Schuss – sicher nicht unhaltbar, aber Hildebrand, der in den 90 Minuten fast nichts zu tun bekommt und wohl auch nicht richtig warm ist, kommt einen Tick zu spät. Es steht nur noch 4:1. Die Mannschaft des SC Opel freut sich als hätte sie mindestens gerade die Deutsche Meisterschaft gewonnen. Ein gelbundschwarzer Stapel aus Spielern.

„Des war die Hauptsach“, sagt ein südländisch-urhessischer junger Mann hinter mir, der wohl  irgendwie enger mit dem SC Opel verbunden ist, und die Umstehenden mit Insider-Anekdoten unterhält.   Deshalb weiß ich:  Der kleine Sohn seines Freundes hat heute zu den Einlaufkindern gehört und wollte partout nicht mehr mitmachen als er gehört hat, dass er mit Timo Hildebrand auflaufen soll. Huch – wieso das denn?  

Apropos Hildebrand: Neben uns vertreibt sich eine kleine Truppe Eintrachtler die Zeit mit kreativen Timo Hildebrand-Gesängen und probiert aus, was sich so alles auf „Hildebrand“ reimt. Und das ist: Eine ganze Menge. Ich reime mit:
…fängt den Ball mit einer Hand
…steht felsenfest wie eine Wand
…findet Halt auch auf dem Sand
…kriegt für jede Flasche Pfand
…fühlt sich wie im Wunderland
…ist bei der Eintracht ein Garant
…ist immer so schön braungebrannt
…kommt, wenn’s drauf ankommt, angerannt.
…kennt  sogar den Halbzeitstand.

Wir auch! 7:1 und wir begeben uns auf einen kleinen Stadionrundgang. Das Stadion am Sommerdamm liegt etwas oberhalb des Mainufers.  Durch den Zaun spähe ich nach draußen. Die Weitsprunggruben unten am Main waren bei den Bundesjugendspielen immer besonders beliebt. Überhaupt, der Main, der mehr nach Fluss riecht als andere Flüsse.  Wie oft haben wir hier mit ein paar Flaschen Bier die Nachmittage verbracht.  Dirty old town. 

Im Halbzeitspiel dürfen Kinder sich als Moritz Stoppelkamp (ausgerechnet) probieren und von der Strafraumgrenze aus aufs gegenüberliegende Tor schießen.  Franziska, das einzige Mädchen, gewinnt den Ballweitschusswettbewerb und damit zwei Eintrittskarten fürs  Spiel der Eintracht gegen Hertha und dann beginnt auch schon die zweite Halbzeit.  Wir stehen jetzt seitlich neben der Haupttribüne mit gutem Blick auf die Trainerbank. Der Wind wird stärker, Blätter wehen aufs Spielfeld. Stefan Aigner ist sehr, wirklich sehr bemüht.  Er läuft, ackert, bietet sich an. Grade deshalb fällt auf, dass er von seiner Top-Form noch ein gutes Stück entfernt ist. Schmaler sieht er aus, irgendwie scheint es ihm noch an körperlichem Nachdruck,  Wucht, Dynamik zu fehlen. Auffälligste Spieler auf dem Platz: Sonny Kittel und Marc Stendera, die sich auch im Zusammenspiel sehr gut verstehen.  Stendera schlüpft in die Rolle des Spielmachers, verteilt die Bälle, rückt zentral mit auf, wechselt die Seiten. Sonny Kittel, sehr leichtfüßig und spielfreudig, mit Zug zum Tor. Ein ums andere Mal düpiert er seine Gegenspieler  – so schön das aussieht, den Gegenspieler immer noch und noch einmal austeigen zu lassen –  irgendwann fängt es an mich ein wenig zu ärgern. Gar nicht mal von wegen der Verspieltheit, sondern von wegen Respekt vor dem Gegenspieler, der – wie alle auf dem Platz – betont fair ist, nie hart einsteigt. Hier in Rüsselsheim ist Eintracht-Land, da will sicher keiner für weitere Verletzte beim Verein des Herzens sorgen. Auch umgekehrt nützt die Eintracht das Spiel sichtlich zum Üben.  Das Ergebnis  hätte noch höher ausfallen können, aber sie schießen nicht aus allen Rohren, sondern versuchen auch vor dem Tor zu kombinieren, die Bälle auf den noch besser postierten Nebenmann abzulegen.  Das gelingt nicht immer, aber oft.

Mit dem Schlusspfiff fällt das letzte Tor – Kadlec trifft noch einmal -  und  auch wir haben  unsere Stadionrunde abgeschlossen. Noch ein Eintracht-Feuerzeug im Shop und dann nichts wie zum Auto.  Als hätte auch das Wetter nur auf den Schlusspfiff gewartet legt der Herbst jetzt richtig los. Von einer Minute auf die andere ist es nicht mehr nur grau, sondern rabenschwarz und der Regen fließt wie aus Kübeln, der Wind fegt die Blätter durch die Luft. Ein paar Minuten früher und das Spiel hätte abgebrochen werden müssen, spekulieren wir.  „Beim Trainer Euler hätt’s so was nicht gegeben“, albert mein Mit-Adler „der hat bestimmt bei jedem Wetter trainieren lassen.“ Wir lachen. „Heeey, aber ich bin mir sicher: Er hätte sicher persönlich dafür gesorgt, dass die Jungs hinterher schnell raus aus den nassen Klamotten kommen und was Warmes trinken.“  Der Parkplatz-Stau hat sich jetzt aufgelöst. Wir fahren zurück in die Zukunft.


Kommentare

  1. Es sind mir deine liebsten Einträge, die dich, bevor es zurück in die Zukunft geht, in die, deine Vergangenheit reisen lassen. Ich erfahre und lerne jedes Mal mehr. Danke.

    Herzliche Grüße

    Kid

    PS: Trainer Euler hat seine Buben wohl einst gerpägt und ihnen etwas auf dem Weg durchs Leben mitgegeben. Ein Fußball-Lehrer im besten Sinne.

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  2. Ja, so hört sich das an, wenn man liest, was die Euler-Buben da über ihren Trainer berichten. Und sie haben es wohl alle, jeder auf seine Art, beherzigt, was er ihnen mitgegeben - Anständigkeit und Zusammenhalt auch da, wo das Leben sie im Laue der Jahre an verschiedene Ecken gestellt hat.

    Freut mich sehr, dass du diese Einträge so magst. Es gibt inzwischen bereits ziemlich viele kleine Reise-Kapitel, längst nicht alle hier im Blog. Ich hoffe, dass sie sich irgendwann zu einem eigenen Bändchen als Ganzes fügen.

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    1. Und dieses Bändchen, das hatte ich dann doch zu gerne! Wenn ich dabei irgendwie behilflich sein kann, dass aus der Hoffnung Wirklichkeit wird, lass es mich bitte wissen.

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    2. Vielen Dank - das ist sehr lieb von dir!! Heimat-Collage mit Eintracht-Tupfern :)

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