Erstaunlich schnell hat die WM im Brasilien Fahrt aufgenommen und hat sich in den sommerlich geprägten Tagesrrhythmus eingefügt. Spannende, ansehnliche Fußballspiele,
Schiedsrichterfehlentscheidungen, erstaunlich viele Tore, erste Überraschungen. Die Stimmung in den Stadien klingt wie Fußball früher. Aaaah
und Oooh und Baaaah und zwischendurch schält sich ein Gesang oder ein
Anfeuerungsruf aus der spielbegleitenden Kulisse. Schön.
Erste Verschwörungstheorien greifen um sich. Sind die Brasilianer zum Sieg gepfiffen
worden? Ich denke: Sie hätten am Ende auch so gewonnen. Und es ist nicht der
erste falsche Elfmeter – und schon gar nicht der krassesete -, der gegeben worden ist. Die Brasilianer werden
im Turnier – ob mit oder ohne FiFA – weit kommen und die Kroaten hoffentlich trotz
Niederlage ebenfalls die Vorrunde überstehen.
Manches ist bei dieser WM neu, vieles hat sich in den letzten Jahren etabliert. Zum eisernen WM-Bestand der jüngeren WM-Zeitrechnung gehört Oliver Kahn, der beim
Spiel der Brasilianer gegen Kroatien wohl der einzige ist, der ein „typisches
Eröffnungsspiel“ gesehen hat. Wenn man sich die gängigen Plattitüden vorher
zurecht legt, muss man sie dann auch sagen, ob es passt oder nicht. Sehr schön ist die Moderatoren-Kombination mit
Oliver Weltke, der Kahn immer mal wieder aus dem Konzept bringt und ihm Dinge entlockt,
die wir so noch nicht gewusst haben. „Denke nach und werde reich“ heißt das Buch, dass die Nationalspieler vor
der WM 2006 in Deutschland aus motivationsförderlichen Zwecken geschenkt
bekommen haben - der Klinsi, der war
halt knitz. Für die die meisten hat das ja dann auch ganz gut geklappt. Da kann der Geburstagstitan manchmal nur noch
verkrampft lächeln.
Vollkommen außen vor sind die Spielanalysen, die noch vor
einiger Zeit unabdingbares Markenzeichen des Experten waren. Es wird nicht mehr gezeichnet und eingekringelt und mit
Pfeilen gekennzeichnet - dafür wieder mehr geschwätzt und wer will, kann sich
dann ja im Netz das Spiel aus der „taktischen Hintertor-Perspektive“ oder per
WM-App eine kritische Abseitsentscheidung aus 525 unterschiedlichen
Perspektiven begutachten.
Gekringelt wird stattdessen auf dem Spielfeld, wo das Freistoß-Spray zum Einbsatz kommt - eine höggschd alberne Sache mit
einer höggschd albernen Bezeichnung. Leider
habe ich immer noch nicht genau identifizieren können, wo genau der
Schiedsrichter die Sprühdose herholt. Aus seiner Hosentasche? Was genau ist das, was er da auf den Rasen sprüht?
Was, wenn mehrere Freistöße zeitnah ungefähr an der gleichen Stelle fällig
werden? Möglicherweise muss dann mit einer Videokamera die letzte Sprühung
lückenlos nachgewiesen werden. Wäre es perspektivisch
vielleicht sinnvoll über einen Werkzeuggürtel für Schiedsrichter nachzudenken? Ihr wisst schon: So zum Umschnallen à la
„Hör mal wer da hämmert“, das dann zum "Schau mal, wer da sprüht" werden könnte. Da hätten „Schiedsrichter auf Weltniveau“ (Schiedsrichterexperte Urs Meier) alles griffbereit,
was für nachhaltige Qualität auf dem Platz benötigt wird: Pfeife in mehrfacher Ausfertigung (leise,
laut, sehr laut). Funkgerät zur
Verständigung mit denAssistenten. Karten-Set im formschönen Karton in den Farben
der jeweiligen Nationalmannschaften. Und
auch eine möglicherweise bald
vielfältigere Auswahl an Sprühutensilien wäre einfach und bequem
im Gürtel unterzubringen. Denkbar als Grundausstattung
wären z.B.; Pfefferspray – zum eventuellen Einsatz gegen
randalierende Spieler (oder Fans) - oder Haarspray,
das bei Bedarf auch von Spielern oder Trainern ambulant genutzt werden könnte.
Vorsicht, damit nichts verwechselt wird.
Eine WM ist immer auch eine Zeit der Wiederentdeckungen und
unverhofften Begegnungen. Tatsächlich: Niko Kovac trainiert die Kroaten. Und
bei Kamerum steht Volker Finke am Spielfeldrand und sieht verknitterten Gesichtes zu, wie seine
Mannschaft im Regen gegen Mexiko verliert. Beim Spiel Elfenbeinküste gegen Japan stehen "uneser Ivorer" und "unser Japaner" auf dem Platz und kaum zu glauben,
aber wahr: Theo „maaaaaaaaaaan“ Gekas steht tatsächlich immer noch oder wieder
in der Startformation von Griechenland. Wollen wir hoffen, dass Bernd Hölzenbein ihn übersieht und nicht etwa
auf die Idee kommt, ihn als
Neuentdeckung zu scouten. Dann
vielleicht doch lieber „Eintrachts next Caio“.
Favoriten? Außenseiter? Flops? Auch hier zeigen sich erste
Tendenzen. Das bisher spektakulärste
Spiel des Turniers habe ich als
Live-Spiel leider verpasst. Eigentlich
wollten wir bei uns im Ort „public viewen“, sind aber stattdessen im Innenhof
einer kleinen Weinstube hängen geblieben. Das war wunderbar beschaulich und
friedlich und vielleicht der einzige öffentliche Raum, an dem derzeit während
der Spiele nicht einmal ein Fernseher läuft. (Darauf kann man im Fall des Falles in den folgenden Wochen möglicherweise noch das eine oder andere Mal zurückkommen). Spielzusammenfassung und Tore gab
es für mich dann also erst hinterher.
Wenn Robben orange statt bayernrot trägt, könnte man fast darüber nachdenken,
ihn sympathisch zu finden. Und wow: Ich
kann mich nicht erinnern, dass ich je schon mal einen so wahnsinnigen Flugkopfball aus so großer Entfernung gesehen habe wie den
von van Persie. Mal sehen wie die
Spanier das Spiel wegstecken - „dieses unglaubliche Debakel, das unterm Strich auch
ein Fiasko war.“ (Rudi Cerne). Oder um es mit dem Tagesthemenreporter zu sagen:
„Ein Trauma, an das die Spanier noch eine ganze Weile zu knabbern haben.“ Abwarten das.
Der Sieg von Costa Rica gegen Uruguay war ebenfalls eine Riesenüberraschung, wenn auch
nicht für mich und all die anderen, die zuvor das WM-Orakel in der FR gelesen
haben. Ein Gürteltier (oder war es eine
Krake oder ein Orang Utan?) hat da nämlich längst vorhergesagt hat, dass Costa
Rica im Halbfinale stehen wird. Dann war
ja klar, dass sie gegen Uruguay damit anfangen.
Eine WM gibt ja häufig auch Hinweise auf Veränderungen in
der Spielweise – so gibt es auch fußballerisch es bereits erste Trends und
Erkenntnisse Tiki-Taka aus dem Spiel
heraus scheint (nicht nur wegen der Niederlage der Spanier) out. Das Spiel ist (es sei denn es herrschen 95%
Luftfeuchtigkeit und Italien spielt
gegen England) noch schneller, dafür schnörkelloser und straighter geworden. Vorab trainierte Spielzüge und Abläufe, die auf dem Platz
perfekt umgesetzt werden: Lange, sehr
harte, flache und platzierte Pässe in die Spitze, die direkt am Mann –
hoho, Jogi hat es gewusst – und am Boden mit äußerster technischer Präzision
und fußballerischem Können „verarbeitet“ werden. Auffallend - wirklich auffallend! - viele Distanzschüsse,
die – ein vielfach unbeachtetes Detail – mit zwei verschiedenfarbigen Schuhen
ausgeführt werden müssen. Das ist zudem sehr praktisch, weil Spieler und
Zuschauer auf diese Weise links und rechts besser unterscheiden können. Neymar ist so etwas wie die Verkörperung
dieses neuen Stils. Aber im Ernst:
Wahnsinn, was der kann. Und schön ist er auch noch.
Schon optisch ein Kontrastprogramm: Die Italiener. Als die Kamera vor dem Spiel gegen England die Mannschaft
„abschwenkt“, sieht sie aus wie ein wild zusammengewürfelter Haufen
Aufständischer, der vom verwegen blickenden
Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi (aka Andrea Pirlo) angeführt wird.
Dazu passt perfekt die italienische Nationalhymne, die klingt wie aus einer
Verdi-Oper. Jeder Spieler sieht anders
aus – vom Iro bis zum wilden Langhaarschnitt, Mähne, rauschende Bärte, Stoppeln
– alles dabei. So cool werden die Italiener bei der Vergabe des WM-Titels ein Wörtchen
mitreden - und die Engländer hoffentlich zumindest die Gruppenphase überstehen.
Sehr gespannt bin ich auf den weiteren Auftritt des kleinen Raheem Sterling,
der heiß hin oder her, bei den Engländern 90 Minuten brotlos aber unermüdlich über rechts Druck gemacht
hat. .
Morgen wird dann also auch die deutsche Nationalmannschaft
ins Turnier starten. Bis dahin überbrücken wir die Zeit immer wieder gerne mit
Berichten und Live-Interviews aus dem Camp. Voller Erleichterung nehmen wir nach
mehrfacher Nachfrage noch einmal und noch einmal und noch einmal zur Kenntnis, dass Manuel Neuer wieder mit tun
kann. Schweini vielleicht nicht. Die
erblondete Katrin Müller-Hohenstein sitzt in einem babyblauen Luftanzug neben einem sehr erwachsenen und souveränen Poldi am
Pool und beinet mit den Baumeln im Wasser. Umgekehrt. Jogi Löw joggt – mal in
blau, mal in weiß – jeden Morgen malerisch am Strand. Während der PK teilt er uns mit, dass er vollkommen
entspannt, die Mannschaft jedoch jederzeit „in höggschder Alarmbereitschaft“
ist, was der Spieler Durm postwendend bestätigt.
Parole: „Wir sind in jeder Minute bereit.“
Auch in näherer Umgebung mehren sich die Vorzeichen auf das
bevorstehende nationale Ereignis. Die Dichte der Deutschlandfähnchen (an den Häusern, an
Autos, an den Fenstern und Balkonen)
wächst minütlich. Im Schwimmbad sichte ich heute bereits zwei Badetaschen in
schwarzrotgold und die Riesenrutsche (es ist kühl und windig und daher ziemlich
leer) teile ich mir heute mit einem winzigen kleinen Jungen, der
schwarzrotgoldene Schwimmflügel trägt.
Ich sehe das höggschd entspannt.
So, jetzt weiß ich auch was 'knitz' bedeutet. Glaube ich zumindest.
AntwortenLöschenVom Drumherum bei der WM bekomme ich kaum was mit. Ich schalt pünktlich zu den Spielen ein, in der Halbzeitpause um und nach dem Schlusspfiff meist ab. Und die meisten Kommentatoren versuche ich während des Spiels auszublenden.
"Rasierschaum" auf dem Rasen und den bunten Schühchen der Kicker erinnern mich eher an Halloween als an Fußball, aber veralbert komme ich vor, wenn der Ball für alle sichtbar fast gemächlich über die Linie rollt oder das Netz ausbeult und mir die Torlinientechnik per Animation den Treffer bestätigt. Für die Treffer, die nicht bestätigt werden, obwohl sie regelkonform erzielt werden, gibt es noch keine Technologie. Und für Treffer, die Anerkennung finden, obwohl sie regelwidrig zustande gekommen sind, gibt es zwar die Wiederholung auf den Videoleinwänden im Stadion, doch die darf der Schiedsrichter ja nicht nutzen. Tatsachenentscheidung schlägt Technik, denn es gibt zwar das Video, aber nicht den Videobeweis – auch wenn ihn alle im Stadion sehen können. Da konnten die Spanier noch so protestieren.
Stichwort Gekas: Als er die hundertprozentige Chance aus wenigen Metern freistehend an die Latte köpfte, musste ich an seinen kapitalen Fehlschuss gegen die Bayern denken. Gelernt ist halt gelernt. Das Auslassen solcher Gelegenheiten hat er sogar noch perfektioniert, denn damals ging der Ball ja nicht in Richtung Tor, sondern glatt vorbei.
Ach ja: Als Hasebe ging und Djakpa kam, war ich schon eingeschlafen. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste.
Und Neymar ist ein grandioser Kicker. Und ein Schauspieler. Minuten vor seinem ersten Treffer sieht er im Kopfballduell seinen Gegenspieler kommen, nimmt den Ellenbogen hoch, schaut weg und langt mit Schwung in die Richtung seines Kontrahenten ... Danach mimt er den Unschuldigen und deutet mit zwei Fingern auf seine Augen, so als habe er nichts vom Gegenspieler bemerkt. Neymar kann nicht nur mit den Füßen zaubern, sondern auch mit Gesten lügen. Na ja, zumindest die letzte Begabung haben viele andere auch.
Heute um Mitternacht spielt Argentinien. Mit einem anderen Zauberer. Mit Messi. Und ich muss um sechs Uhr aufstehen ... Ganz entspannt, versteht sich. :-)
Liebe Grüße vom Kid
Zwickau ist wichtig. Und Rostock und Flensburg. Fußball aktuell nur als Nebengeräusch. Gruß aus Ostwestfalen (Bundesligastandort!).
AntwortenLöschen"Leider habe ich immer noch nicht genau identifizieren können, wo genau der Schiedsrichter die Sprühdose herholt. Aus seiner Hosentasche? " (...) "Wäre es perspektivisch vielleicht sinnvoll über einen Werkzeuggürtel für Schiedsrichter nachzudenken?"
AntwortenLöschenGestern habe ich gesehen, dass die Flasche bei einem Schiedsrichter hinten an der Hose hing (Gürtel?). Sieht tatsächlich aus wie das Pfefferspray bei unseren "Freunden" und "Helfern"...
@Kid: Danke fürs Mitschnipseln. Den freistehenden Latten-Köpfer von Gekas hab ich leider irgendwie verpasst, den Ellbogen-Check von Neymar nicht. Hätte er doch gar nicht nötig.
AntwortenLöschenKnitz ist ein Mensch im Übrigen dann, wenn er zwar nicht klug, aber auf eine verschmitzte Art clever ist , mmer eine Idee hat, wie er für sich das Beste herausholen kann und denkt, dass ihm die anderen schon nicht drauf kommen. Könnte allerdings sein, dass er sich für cleverer hält als er ist. Irgendwie so. ich muss doch gleich nochmal bei meinem schwäbischen Mit-Adler nachfragen.
@Owlader: Yep - recht hast du :) Auch wenn es nach dem Spiel heute nicht mehr so ganz einfach sein dürtte, den Lärmpegel der Nebengeräusche zu überhören.
@Anonym: Echt? An der Hose? Das habe ich noch nicht gesehen. Da gibt es wohl noch keine einheitliche Regelung. Ich bin dafür, dass das umgehend nach §3.754b der FIFA-Sprühverordnung standardisiert wird!
People are crazy and times are strange. Da bleibt nur eins: Auf nach Zwickau!
Einträchtlich, K.