Ein wichtiger
Mittelpunkt meiner Kindheit und Jugend ist der Kirschbaum, der bei uns im
Garten stand. Der Baum hatte für unsere Familie eine wichtige Bedeutung.
Eigentlich waren es zwei Kirschbäume, einer im Hof, einer im Garten – zum Kirschbaum
im Hof, der direkt hinter dem Haus stand,
hatten wir alle eine besondere, man kann sagen: eine innige Beziehung. Der
Kirschbaum war gepflanzt worden als meine Oma und mein Opa das Haus gebaut
hatten, er war ebenso alt wie mein Vater. Mein erstes Baby-Foto zeigt mich
zusammen mit meinem Opa unter dem Kirschbaum. Als ich ein kleines Mädchen war,
war der Baum bereits riesig, höher als unser Haus und er trug jeden Sommer eine
große Fülle, kleiner, köstlich schmeckender schwarzer Kirschen.
Mein Zimmer – ich lebte bei meinen Großeltern – war im
ersten Stock, über dem Wohnzimmer meines Vaters. Der Kirschbaum stand direkt
davor, fast konnte ich vom Fenster aus nach den Zweigen greifen. Mein Bett stand neben dem Fenster, so konnte
ich vom Bett aus in den Baum schauen, den Regen und den Wind in den Blättern
hören.
Ein, zwei Sommer lang lebte ich in dem Baum. Eine der
unteren, kräftigen Astgabeln war Aufenthaltsort und Turngerät in einem. Ich
dachte mir eine ganze Welt aus, während ich mit dem Kopf nach unten im Baum
baumelte. Lebte einsam in der Wildnis, war Schriftsteller, Schauspieler, oder Artist und probierte die Turnübungen, die ich mir ausdachte, immer und immer wieder.
Auch zu meinen ganz frühen Fußballerinnerungen gehört der
Kirschbaum. Ich sitze mit meinem Vater in seinem Wohnzimmer, der Fernseher
läuft, die Flügel des Fensters sind weit geöffnet, es ist warm. Im Dunkel
zeichnet sich draußen die Kontur des Kirschbaums ab. Im Fernsehen: Fußball.
Vielleicht das Sportstudio. Zwischendurch klettere ich durchs Fenster – das
Zimmer liegt im Parterre – nach draußen, um ein paar Kirschen zu essen. Von
Innen die Fußballgeräusche aus dem Fernseher, leise, manchmal laute Stimmen.
Wenn ich genug gegessen habe, stelle ich mich auf einen kleinen Mauervorsprung,
mein Vater lehnt sich durchs Fenster und hievt mich wieder hinein.
Im Frühjahr und Sommer schien sich bei uns immer alles um den
Kirschbaum zu drehen. Wie voll hing er in diesem Jahr? Wann können die ersten
Kirschen geerntet - "abgemacht" - werden? Wenn ich Bauchweh hatte, lag das daran, dass ich zu
früh oder zu viele Kirschen gegessen hatte. Der Ertrag des Baumes war so groß,
dass alle rundherum von uns mit Kirschen versorgt wurden und meine Oma trotzdem
kaum mit dem Einmachen und Einfrieren nachkam.
Ein Korb für Tante Kätha, einer für Tante Elli, zwei für Tante Lisabeth.
Ein Eimerchen für die Nachbarin rechts – Frau L. -, eines für die
Nachbarin links (Frau D.). Eine Schüssel für Frau B., bei der meine
Oma putzte: „Nur zum Essen.“ B.s waren zu fein, um Kirschen einzukochen. Die Tochter B. war früher, als
junges Mädchen, Haustochter bei dem berühmten Schauspieler Paul Dahlke gewesen
und hatte dann einen Herrn H. geheiratet. Das war ein schmaler Herr mit
Brille, der irgendeine wichtige Position inne hatte und nie zu sehen war. Bei B.s lagen
überall Teppiche und wenn ich – manchmal, sehr selten – meine Oma beim Putzen
begleitete, traute ich mich kaum darauf zu treten. Neben B.s wohnte Frau Lotz. Hier war ich für die Zustellung der Kirchen zuständig, denn im Haus lebte auch meine Freundin Susi. Frau Lotz erhielt während der Kirschenzeit ein über den anderen Tag ein Schüsselchen
Kirschen. Sie war schon sehr alt, hatte große gelbe Zähne und hieß mit Vornamen
Appollonia.
Hauptkirschenpflücker war mein Opa, der überhaupt der
weltbeste Pflücker von Obst jeglicher Art war und in die höchsten Gipfel der
Bäume steigen konnte. Dabei aß er selbst keine Kirschen: „Noch kaa aa
gegessen“, bekräftigte er immer wieder. Mögliche Pflückhelfer – mein Vater, mein Onkel
Heinz – mussten sich seinem Kommando unterordnen und konnten es doch nicht recht machen. Meine Tante Lisabeth, die
zunächst ganz in der Nähe von uns wohnte, kam im Sommer regelmäßig auf dem
Heimweg „vom Opel“ mit dem Rad (alle
fuhren Rad) bei uns vorbei. Dann standen
wir zusammen im Garten, unter dem Kirschbaum, und aßen Kirschen bis wir nicht
mehr konnten. „Direkt vom Baum schmecken sie am besten.“
Unser Haus war ein altmodisches, unzeitgemäßes Haus. Rund um uns herum wurden Wintergärten angebaut, Terrassen betoniert,
Leitungen verlegt, Gemüsegärten durch Rasenflächen ersetzt. Das Haus und der Kirschbaum fielen immer mehr aus der Zeit.
Das blieb auch so nachdem ich ausgezogen war, nachdem zunächst meine Oma, dann
auch mein Opa gestorben war, und schließlich auch dann als mein Vater allein im
Haus zurückblieb. Er bewohnte zwei Räume im unteren Geschoss und nutzte oben
die Küche. Die restlichen Zimmer im Haus blieben, bis auf einige Möbel, die ich
bei meinem Auszug mitgenommen hatte, unverändert. Die Zimmer staubten ein, wurden
zu Ablage- und Abstellräumen.
Jetzt war mein Vater ungehinderter Herr des Kirschbaums. Im
Frühjahr und Sommer hatte er die Fenster
zum Hof, in dem der Kirschbaum stand, in der Regel geöffnet. Bei länger
andauerndem schönen Wetter zog er ins Freie. Dann stand unter dem Kirschbaum
ein kleines Tischchen, außerdem gab es zwei Stühle – einer für meinen Vater,
einen zweiten für seinen Freund Jakob, der häufig zu Besuch kam, und der für alle
Welt nur "der Jockel" oder (so sein Nachname) „der Wolf“, für meine Freunde und
mich „der große Wolf“ war – mit Ironie, aber auch einem Hauch echter
Bewunderung für die großartige Selbstgewissheit, die er bei einer gewissen
Schlichtheit seines Handelns ausstrahlte. Mein erstes Spiel im Waldstadion habe ich als kleines Mädchen zusammen mit meinem Vater und dem großen Wolf erlebt. Mein Vater war Eintrachtler, der
große Wolf war Kickers- und Bayern-Fan, konnte aber - je nachdem wie er gelaunt war - durchaus der Eintracht auch etwas abgewinnen. Sie hatten im Laufe der Jahre gelernt, sich damit zu
arrangieren.
Links wurde der Hof von einer Mauer begrenzt. Dort stand
eine alte grün gestrichene Badewanne, in der Regenwasser zum Gießen gesammelt
wurde. Die Wand um die Wanne herum hatte mein Vater dekoriert – da hingen
Regale und ein altes Wagenrad, eine Sichel. Und überall waren Blumen, Mengen
von Blumen. Fleißige Lieschen, über und neben der Wanne, überall im Hof, wo ein
Platz war, um einen Blumenkasten aufzuhängen oder aufzustellen, über- und
nebeneinander blühte und blühte es. Jetzt war mein Vater derjenige, der alljährlich die reiche
Fülle an Kirschen erntete, auf seine Art. Nachbarn und Verwandte konnten sich
auch jetzt auf regelmäßige Lieferung in Eimern, Körben und Schüsseln verlassen.
Jeden Morgen, wenn mein Vater in den Garten ging, umarmte er
den Kirschbaum – der Stamm war so dick, dass er ihn nur zum Teil umfassen
konnte – und drückte ihn so fest er konnte. Er war davon überzeugt, dass die
Kraft des Baumes auch ihm Kraft geben würde.
Vor ein paar Jahren starb auch mein Vater. Für mich gab es
kein Zurück mehr ins alte Zuhause. Wir haben das Haus, unser Haus, verkauft. Es
dauerte drei Jahre bis ich mich getraut habe, wieder am Haus vorbei zu fahren.
Modern und gepflegt steht es da. Den Kirschbaum gibt es nicht mehr.
Mein Mit-Adler und ich bewohnen heute ein eigenes Haus. Bei
uns im Garten wachsen Äpfel und Pflaumen, Johannisbeeren und Himbeeren. Nach
dem Tod meines Vaters hatten wir einen Kirschbaum gepflanzt, der leider nicht
wachsen wollte. Vor zwei Jahren ein neuer Versuch, in diesem Jahr die ersten
Früchte, nur zwei Hände voll. Ein Anfang. Vor ein paar Tagen stand ich zum
ersten Mal seit Jahren wieder unter einem Kirschbaum und habe Kirschen
direkt vom Baum (na ja: Bäumchen) gegessen. Da schmecken
sie nämlich am besten. Es war ein glücklicher Moment.
Das ist wieder ein wunderschöner, bittersüßer Eintrag, Kerstin. Poesie, mitten im Leben. Diese Geschichte gehört in etwas, das man anfassen, halten und bewahren kann - in ein Buch. Mit Papier, vielleicht aus (Kirsch-)Baum gemacht. Auch Worte kann man umarmen. Und manchmal geben sie einem auch Kraft. Bis zum nächsten glücklichen Moment.
AntwortenLöschenHerzliche Grüße
Rüdiger
Solche Geschichten brechen mir das Herz. Du hast nicht nur den Blues, Kerstin, du bist der Blues. Eine wunderbare Geschichte!
AntwortenLöschenViele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.
War ich mal wieder blind? Hatte ich gar nicht gesehen, dass du den Kirschbaum wirklich eingestellt hast. Oder der Zahnschmerz hat meinen Blick getrübt...
AntwortenLöschenWunderschön, liebe Kerstin. Du hast einfach eine große Gabe!
LG Nicole
Kann mich nur meinen Vorrednern anschließen. Jeder hat so seinen Kirschbaum:-)
AntwortenLöschenDanke euch sehr!
AntwortenLöschenlgk
Ja, so einen Kirschbaum kenne ich auch. Am Eckardtsberg. Er hat mich immer erwartet, auch später, als ich in den Sommerferien von Frankfurt aus anreisen musste. Ich bin ihm im Film 'Padre Patrone' der Gebrüder Taviani wieder begegnet, obwohl er da kein Kirschbaum mehr war. Da ging es um die Vergewisserung eines Ortes, auch natürlich um Selbstvergewisserung. Schließ die Augen. Die Leinwand wird schwarz und still. Höre. Ein leises Brausen wird vernehmbar in der Schwärze, die Leinwand wird nächtlich und zeigt einen im Wind sich bewegenden Baum. Dann versinkt das alles wieder im Dunkel und in der Stille. Es war aber da. Und ist es im Geist immer noch. Wie man hört, sollen auch Indianer Bäume umarmt haben, Berühungen der Kraft. Nur: ein Indianer weint nicht. Sagt man.
AntwortenLöschenWas für ein wunderschöner Text voller Erinnerungen. Danke für's Teilen, liebe Kerstin. Da kommen auch bei mir Erinnerungen an die Häuser und Gärten meiner Großeltern (mit Kirschbäumen) wieder hoch...
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