Wie lange dauert eigentlich die Zeit „zwischen den Jahren“?
Sind es die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr? Bezieht „zwischen den
Jahren“ – je nachdem an welchem Wochentag Weihnachten war - auch noch das
Wochenende nach Neujahr bis hin zu Dreikönig mit ein? Für mich ist „zwischen den Jahren“ vor allem ein Gefühl. Wenn du
Pech, viele Verpflichtungen und Termine hast, es dir ohnehin grade nicht gut geht,
die Arbeit dich nicht los lässt und Weihnachten eher Last als Lust ist – dann
fällt dir „zwischen den Jahren“ irgendwann die Decke auf den Kopf, du möchtest
am liebsten wegrennen oder kneifst die Augen fest zu und hoffst, dass ganz
schnell alles vorbei und wieder normal ist. Wenn du Glück hast, ist zwischen
den Jahren ein Flow. Du lässt dich einfach in die Zeit fallen und gleitest wie
auf einer Wolke durch die Tage. Sonntag? Montag? Nachmittag? Nacht? Irgendwann
spielt das keine Rolle mehr.
In den vergangenen Jahren ist es mir oft schwer gefallen,
von jetzt auf nachher in den Weihnachtsmodus zu schalten. 2014 war
ein sehr anstrengendes, sehr erfülltes und vollkommen urlaubsloses Jahr.
Und: Ich habe Glück, der Übergang klappt nahtlos. Ich falle einfach aus der
Zeit. Und es ist erstaunlich wie viel man denkt, fühlt und erlebt, wenn man
nichts tut oder zumindest nur das, was sich ergibt und worauf man Lust
hat.
Es ist, als ob die Chronologie der Ereignisse aufgehoben ist
und stattdessen entsteht eine kunterbunt durcheinandergewirbelte Collage von
Gefühlen, Gedanken, Büchern, Bildern, Musik, Filmen und Erlebnissen. Durch meine Tage galoppieren D’Artagnan und
Aramis und vereiteln die Pläne des intriganten Kardinals Richelieu. Unterwegs begegnen sie Jessica Mitford, die
Hals über Kopf ihr konservatives Upperclass Zuhause in London verlässt, in den spanischen Bürgerkrieg zieht und in
Amerika landet. Mit Paul Dahlke baue ich einen Schneemann, mit Loula Grace
Erdmann jage ich Prariehühner im Panhandle, in Cranford leide ich mit Miss
Matty und von Keith Richards erfahre ich wie das damals war, als er von seinem
Opa Gus Gitarre spielen gelernt hat. Dunka Plink. Ist es dem Mensch gegeben
eine Bratwurst zu malen? Welchen Einfluss hatte Hölderlin auf Hegel und was
könnte das bedeuten? Gläser klirren. Leonard Bernstein
dirigiert die „Ode an die Freude“ und Bob besingt den Santa Claus, der in die
Stadt kommt. „O du fröhliche“ klimpert es (oder ich?) auf dem Klavier. Die mächtigen Tannen auf dem Friedhof in
Rüsselsheim schwanken im Wind und die Glocken der kleinen Kirche hier bei uns
im Ort läuten. Via
Facebook winkt Bamba Anderson in Badehose von einem sonnigen Strand in
Brasilien. Hier schmurgelt der Weihnachtsbraten im Ofen. Die schwarzundweiße Katze streckt auf
meinem Schoß die Beine in die Luft und ich knabbere Nussplätzchen. Überraschungspäckchen
und liebe Grüße in und aus der Ferne. Post vom Eintracht-Museum bringt mein
Herz zum Hüpfen. Überall wird abgestimmt und gewählt: Lucas Piazon hat das schönste Tor der Hinrunde
erzielt. Alex Meier wird zum Stürmer der Stunde gekürt. Hiltrud aber ist das alles ziemlich piepegal: Sie schickt
Schnee. Unser Kater schlittert mit allen vier Pfoten voran durch die weiße
Pracht im Garten und ich stapfe und schlittere durch die Felder und Weinberge.
Erst durch Schnee, dann durch Schneematsch, dann durch Regen. War das gestern?
Vorgestern? Oder doch heute?
Irgendwo zwischen noch nicht und nicht mehr scheint auch der
kurz vor Weihnachten verstorbene Udo Jürgens zu schweben. Immer, wenn man den
Fernseher anmacht, ist er irgendwo zu sehen. Die Zeitebenen vermischen sich: Sendungen, die ohnehin zum Weihnachtsprogramm
gehörte hätten und als Nachtrag zu seinem achtzigsten Geburtstag ausgestrahlt
werden sollten, zusätzlich ins Programm genommene Erinnerungen und Nekriloge, Showaufzeichnungen, die wenige Tage vor seinem Tod gemacht worden
sind und jetzt „live“ ausgestrahlt werden. Irgendwann nach Weihnachten lese ich
in der Zeitung eine kleine Notiz mit der Überschrift „Udo Jürgens bereits
eingeäschert“ und habe Probleme die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf
die Reihe zu bekommen.
Apropos Probleme: Als
wir am Silvesterabend kurz vor Zwölf zum Silvestercountdown den
Fernseher einschalten, gefriert mir fast das Blut in den Adern. Auf einer riesigen Bühne steht tatsächlich David Hasselhof und unten hüpfen
überwiegend junge Menschen und singen irgendetwas von (sic!) „Rock’n Roll“. Kann das wahr sein? Hunderttausende zu
Silvester am Brandenburger Tor und David
Hasselhoff als „Top Act“ ? David Hasselhoff? Da ist es also, das ohnehinige
scheißegal Sein von allem und jedem.
Oder ist das Dada?
Nichts wie weg hier und raus in den Garten. Über den Dächern
der Nachbarhäuser sprüht es Funken und immer
noch ein und noch ein bunter Glitzerregen steigt in den Himmel. Ich stehe mit
einem Glas Sekt und einer Wunderkerze im Nieselregen, bin inmitten des Trubels
ganz bei mir und denen, die mir wichtig
sind. "Über uns leuchtete der Himmel, und unter uns leuchtete die Stadt." * Dankbar für das Jahr, das hinter uns liegt, voller Vorfreude, Zuversicht
und Tatkraft mit Blick auf das, was kommt.
Dran bleiben. Nicht locker lassen. Ja. Machen wir. Hallo Welt, hallo
2015!
Untrügliches Zeichen, dass „zwischen den Jahren“ sich allmählich dem Ende zuneigt ist das
Neujahrsskispringen. Alle Jahre wieder treten die Adler mit großen Hoffnungen
an, alle Jahre wieder landen sie irgendwo im Niemandsland. Jede Ähnlichkeit mit
den einzig wahren Adlern ist selbstverständlich unbeabsichtigt und rein
zufällig.
**stischindiebraut* raunt das Rippchen mit Kraut, das an Neujahr vor mir auf dem Teller liegt. Ich fange an, mir Termine in meinen neuen Kalender
einzutragen. Die erste Januarwoche ist schon ziemlich voll, aber – hey – noch scheint alles in weiter Ferne. Haris Seferovic postet lustige Silvestereierfotos,
Martin Lanig grüßt mit Schlitten aus dem Schnee und Kevin Trapp freut sich im
coolen schwarzen T-Shirt und Modell-Pose über 100.000 Likes in Facebook. Yeah.
Dicke,
nasse Schneeflocken schweben über dem Rhein und ich bin pitschnass und
beobachte die Möwen. Die Meldungen rund um die Eintracht nehmen Fahrt auf. Ob Alex Meier
tatsächlich auch nur einen Moment darüber nachdenkt, nach Istanbul zu wechseln?
Was wird aus Vaclav Kadlec und Johannes
Flum? Bleibt Jan Rosenthal? Kann sein, dass Felix Wiedwald und Nelson Valdez vielleicht
schon mit ins abudabbische Trainingslager fliegen können. Heute tritt die Eintracht im
Hallenturnier in Mannheim an. Mit lauter
Youngstern. Überflüssiges Spektakel,
klar. Trotzdem klar, dass ich da heute Abend per Fernseher mal reinschaue.
Um die oben gestellte Frage zu beantworten: Jetzt! Zwischen den Jahren ist vorbei.
2015 hat angefangen. Alla dann – let's begin with the beginning!
Nachtrag - Angaben zu zumindest einigen der im Text erwähnten Bücher:
Mitford, Jessica: Hunnen und Rebellen. Meine Familie und das 20. Jahrhundert, Berenberg/Berlin 2014
*Richards, Keith: Gus und ich, Heyne/München 2014
Zizek, Slavoj: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Suhrkamp/Berlin 2014
Nachtrag - Angaben zu zumindest einigen der im Text erwähnten Bücher:
Mitford, Jessica: Hunnen und Rebellen. Meine Familie und das 20. Jahrhundert, Berenberg/Berlin 2014
*Richards, Keith: Gus und ich, Heyne/München 2014
Zizek, Slavoj: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Suhrkamp/Berlin 2014
Ähem. So richtig bin ich anscheinend doch noch nicht im neuen Jahr angekommen. Der Harder Cup kommt gar nicht im TV, oder doch zumindest nur im Pay TV. Und von wegen Adler im Niemandsland - stattdessen ganz oben! Das will ich dieses Jahr noch öfter lesen!
AntwortenLöschenPlötzlich begann es draußen zu knallen und wir wussten, das alte Jahr ist vorbei und das neue hat begonnen. In diesem Moment war zwischen den Jahren vorbei. Zumindest für mich. :-)
AntwortenLöschenBei der Frage, ob scheißegal oder Dada, ist meine Antwort: weder noch. Was aber daran liegt, dass ich Scheiße erkenne und Dada nicht. ;-)
Ok. Das ist dann die pragmatische Version. So kann man es auch sehen ,-)
AntwortenLöschenDada? Mmh.... Dada ist das, was scheinbar dem Gewohnten entspricht, es aber gleichzeitig parodistisch verfremdet - aber vielleicht ist Dada einfach das, was du zu Dada erklärst :) In allem steckt ein Hauch von Dada *g.
Eigentlich ist es noch viel einfacher: nur in Dada ist der Dadist dadaistisch ^^
AntwortenLöschenGenau so ist das. Und wird durch eine Frage im "Quizduell" nachhaltig bestätigt:
AntwortenLöschenWie nennt man die Kunstrichtung, in der man z,B. der Mona Lisa einen Schnurrbart anmalt:
- Surrealismus
- Dadaismus
- Kubismus
- Realismus
Na???
Kapitalismus. Der ist auch auf Wachstum ausgerichtet.
LöschenDada hast du recht.
LöschenNur net hudle ... also ich nehm das hellgelbe Schweinderl : - )
Löschen:)
AntwortenLöschenhttp://chaiyo.blog.de/2008/08/29/dada-ideen-vorn-4654801/
Die sind n o c h glücklicher, und schon ihr Name ist Dada: Pirahâ http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/mein-weg/daniel-everett-freund-der-gluecklichen-indianer-11086580.html Daniel Everetts 'Das glücklichste Volk' ist ein heißer Tipp.
LöschenHallo! Hast du Interesse an einem Linktausch? Setz dich doch bitte mit mir in Verbindung! Auf Twitter: @privatetizian oder per Mail an neunundfuenfzig@posteo.de! Danke! :)
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