Noch bevor der Wecker um halb vier klingelt, bin ich wach. Bordeaux. Heute. Die Tasche ist gepackt. Duschen. Mein Mit-Adler hat mir eine Täschchen mit Proviant
gepackt. Das rheinhessische Hinterland still und dunkel. Um 5 Uhr sitze ich in
der S-Bahn Richtung Frankfurt. Mir gegenüber:
Männer in Orange, auf dem Weg zur Arbeit in Kelsterbach.
Wie konnte ich denken, dass ich das Gleis nicht finde, an
dem unser Zug abfährt? Überall mehr oder weniger müde, erwartungsfrohe Adler.
Nicole, Zoë und Rosa warten schon. Zoë schläft im Stehen. Am Gleiseingang eine
Kette Polizisten. Taschenkontrolle. Raus damit. Alles? Alles. „Das ist
Unterwäsche.“ Ok. Ich darf passieren. Adlertrupps am Bahnsteig, die meisten in
Orange. Plastikkannister mit Äppler. Paletten mit Europaschobbe. Bierkästen. Der
Zug wird voll. Und das in jeder Hinsicht.
Am Vierertisch uns gegenüber vier Youngster um die Zwanzig,
die schon ordentlich vorgeglüht haben. Auf dem Tisch Äppler und Bierdosen.
Gröl. Ohohoho. Kurz hinter Frankfurt entkorken sie die erste Bordeauxflasche.
Oopsala. Wie lange werden sie das durchhalten? Diana schaut bei uns vorbei. Bei
ihr im Waggon ist Party. Wir knabbern an mitgebrachten Broten. Aaah. Mandarinen
habe ich auch dabei. Vielleicht könnte ich mir – statt Mützje - eine auf den
Kopf setzen?
Nach dreiviertel der Strecke hätten wir nichts gegen eine
kurze Gesangspause, aber der Nachbartisch kennt kein Erbarmen und schon gar
keine Ermüdungserscheinungen. Gerade kreist eine Wodkaflasche. Es riecht nach
allerlei, was man lieber nicht röche. Ein Adler-Kollege schwankt im Vorbeigehen
mächtig in unsere Richtung. Tschschschuulligung. Ok, ok. Alles fein, so lange
du uns nicht vollkotzt.
Draußen schält sich allmählich das Licht aus dem Dunkel.
Kahle Landschaft. Kurz vor Paris erstaunliche Neuigkeiten vom Nachbartisch. „Im
nächsten Abteil – da sitzen Voll-Asos. Was die da in sich rein schütten.
Unmöglich.“ Und dazu der Kommentar des Freundes: „Also ich sauf erst so richtig
in Bordeaux.“ Ja, dann.
Zwischenstopp in Paris. Mit der Metro vom Gare du L'Est zum Gare Montparnasse Bienvenue. Mit zehn ist
Rosa kein Kind mehr und muss voll bezahlen. Aha. Studiere die Metro-Karte. Port d'Italie. Les Halles. St. Jacques.
Kribbeln. Unterirdisch laufen wir treppauftreppab von der U-Bahn-Station zum
Bahnhof. Aus allen Gängen schallen Gesänge. Auch wenn keine Adler zu sehen
sind, hört man sie. Wir haben noch Zeit bis zum Anschluss-TGV. Krabbeln nach
oben. Hinaus. Da ist die Pariser Luft, Luft, Luft. Vor dem Bahnhof werden
gerade die Stände für einen Weihnachtsmarkt aufgebaut. Eine kleine französische
Fahne weht im Wind. Wir tappern gegenüber in ein kleines Bistro. Deux Cafes
crèmes, deux chocolates. Hurra: WLAN-Anschluss. Und dann geht es auch schon
weiter.
Ruhe ist die Abwesenheit von Lärm. Im TGV sitzen wir in
einem überwiegend mit Franzosen besetzten Abteil. Stille senkt sich über uns und
die Welt. Rosa erkundet den Zug. Fanclubs aus Berlin, aus Stuttgart. Ein
putziger Berliner Adler, der eigentlich aus Hochheim kommt, macht auf dem Weg
vom und zum Bistro immer mal wieder bei uns Halt und unterhält uns mit
Lebensweisheiten. Französisch? Ganz einfach. Er hatte
Französisch-Leistungskurs. Deswegen weiß ich jetzt auch, was ich sagen muss,
wenn mich ein Franzose anspricht und ich ihn nicht verstehe: „En francais
chaque phrase est un poèm.“ Die französischen Mitreisenden lächeln gerührt und beifällig.
Ankunft in Bordeaux. Ein altehrwürdiger Bahnhof. Sandstein.
Säulen. Der Bahnhofsvorplatz sonnenüberströmt und orange getupft. Unser Hotel,
das Au Faisan, liegt hinter einer Baumreihe direkt gegenüber. Das Zimmer ist
sauber, klein und schmal, im Bad ist zwischen
Dusche, WC und Waschbecken grade mal so Platz zum Stehen. Voll in Ordnung für eine Nacht. Hohe Fenster und
ein winziger Balkon mit Aussicht auf den Bahnhofsvorplatz. Schööön. Wir hatten Verspätung. Merke jetzt doch, dass
ich müde bin. Egal. Ohoho. Schnell etwas Wasser ins Gesicht, warme
Stadionklamotten anziehen und dann auf in die Stadt.
Vor hundert Jahren war ich schon einmal in Bordeaux. Erinnere
mich an weite Plätze, viel Grün, schöne alte Häuser. Kleine Bistros. Ja, genau so. Trotz
der Kälte stehen überall noch Tische und Stühle vor den Restaurants. Jedes
vierte Geschäft scheint ein Friseurladen zu sein. Ladenbesitzer stehen vor ihren und dann – der ehrwürdige Place de la Victoire mit den Resten der alten Universität. Baaah. Alles, alles in
Orange. Eintracht-Fahnen wehen. Die Stimmung ist entspannt, fröhlich, laut. Musik
über Lautsprecher. Ladenbesitzer haben Stände aufgebaut, verkaufen Getränke.
Gemischte Trupps aller Art. Junge,
mittelalte, Ältere. Dick, dünn. Fanclubs. Kaum Kinder. Relativ wenig Frauen.
„Gruppenfoto, Gruppenfoto.“ Schallt es
von überall her. Auch wir machen eins, ei nadierlisch, das muss festgehalten
werden. Rosa sorgt überall für Aufmerksamkeit. So klein und schon auswärts
dabei. Das kann Nicole gar nicht haben. „Die war schon öfter auswärts als du.“
Ääächt? Cool.
Überall wird gesungen. Ohoho.... Eurobbabogaaal... Oka Nikolov schalalala... Die Sonne scheint bei Tag und Nacht. Erstaunlich genug: Erst war er jung, jetzt ist er alt - der Uwe Bindewald. Und damit die Franzosen, die ja bekanntlich französisch sprechen, auch etwas davon haben, wird das Hurra Hurra den Gegebenheiten angepasst. Von Augenzeugen übermittelter O-Ton eines Gesprächs zwischen zwei Adlern: "Was müsse mer da singe?" "Salut. Ca Va." "Ah so. Da muss ich sehe, dass isch mer des für heut Abend noch druffschaff."
Überall wird gesungen. Ohoho.... Eurobbabogaaal... Oka Nikolov schalalala... Die Sonne scheint bei Tag und Nacht. Erstaunlich genug: Erst war er jung, jetzt ist er alt - der Uwe Bindewald. Und damit die Franzosen, die ja bekanntlich französisch sprechen, auch etwas davon haben, wird das Hurra Hurra den Gegebenheiten angepasst. Von Augenzeugen übermittelter O-Ton eines Gesprächs zwischen zwei Adlern: "Was müsse mer da singe?" "Salut. Ca Va." "Ah so. Da muss ich sehe, dass isch mer des für heut Abend noch druffschaff."
Wir schlendern über den Platz. Das Abendlicht fängt sich zwischen den Gebäuden. Der Himmel ist lila und rot gefärbt. J’ai faim. Zoë a faim. Rosa a faim. Et Nicole aussi. In einem Seitensträßchen finden wir ein Mini-Bistro, hier gibt es Sandwiches und Americaine und Merguez (huhu, Zoë). Ich esse ein französisches Panini. Lecker. Im Nebenraum singen Eintrachtler. Die Dame hinter dem Tresen ist unglaublich freundlich und flink. Kann gar nicht schnell genug, Sandwiches und Saucisse und Getränke über den Tresen reichen. Das Geschäft ihres Lebens.
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, der Zug zum Stadion formiert sich. Böller knallen. Rote Dampfwolken steigen in den Himmel. Der Place de La Victoire ist jetzt fast menschenleer, übersät von Müll, Flaschen und Scherben. Kein wirklich schöner Anblick.
Wir gehen in etwas Abstand hinter dem Zug her, der zunächst durch eine breite Geschäftsstraße führt.Unten kleine Läden, oben drüber Wohnungen mit ziselierten Balkonbrüstungen. An einigen Balkons sind Deutschlandfahnen befestigt, andere haben rotundschwarze Luftballons aufgehängt. Menschen an den Fenstern. Einige stehen Spalier.Ein Hauch von Rosenmontagszug. Eine elegant gekleidete Französin spricht Nicole an. Sie ist beeindruckt. Merveilleux. Orange, orange wohin man sieht. Eine kleine grauhaarige Dame huscht, nachdem der Zug vorbei ist, aus ihrer Apotheke und fegt mit einem Besen die Flaschenscherben von ihrem Eingang.
Wir nehmen einen Seitenweg, stoßen dann wieder auf die
orangene Adlerkarawane. Sind jetzt ganz vorne und nutzen die Gelegenheit uns
noch einmal in einem Hotelbistro aufzuwärmen. Sehr schick und edel. Ein
Seminarhotel. Das Foyer verglast, Sessel, gedämpftes Licht. Trinke - na was wohl - eine Orangina. Draußen vor dem Fenster zieht der Eintrachtzug vorbei.
Ein Strom, nicht enden wollend. Immer
mehr Adler schwappen ins Foyer herein. Bier her, Bier her. Der distinguierte
Kellner ist freundlich, aber man sieht förmlich die Schweißperlen auf seiner
Stirn, während er im Akkord Bier in Pappbecher füllt. Six? Vingt et un. Das ist
happig. Vielleicht ein Sonderpreis? Scheint aber nicht abzuschrecken, die
Scheine fliegen förmlich über den Tresen. Ein kräftiger Eintrachtler drängt
sich nach vorne. Une question. Ob ich wohl – une bouteille de Vodka? Non, pas
de bouteille, das dann doch nicht. Schnell noch mal zur Toilette, dann drängeln
wir uns nach draußen. Zoe und Nicole entdecken im Foyer Christoph Preuß.
Meeeensch. Foto? Klar, gerne.
Die Flutlichtmasten des Stadions strahlen schon von fern vor
dem schwarzen Nachthimmel. Wir reihen uns ein in den Pulk, der jetzt Richtung
Stadion strömt. Vorne ist offensichtlich nur ein Tor geöffnet. Die Menge kommt
ins Stocken. Wir stehen. Von hinten drängt es. Alles orange. Salut, ca va – die
Frankfurter sind da. Von hinten drängt es nach. Drei schwankende junge Adler
sorgen sich um Rosa. Keine Panik, wir passen schon auf. Einer der Jungs erklärt
sich zum persönlichen Rosa-Beschützer und blockt die Umstehenden ab. Sehr nett.
Wir lachen, aber allmählich wird die Lage dann doch ein wenig mulmig. Vorne tut
sich immer noch nix, von hinten drängen immer mehr Eintrachtler nach. Vorne
kracht ein Böller. Rauchschwaden. Maaaan. Macht doch auf da vorne.
An den Fenstern immer noch vereinzelte Franzosen. Hinter mir
reckt sich eine Faust. Hitler. Schreit es in mein Ohr. Das ist jetzt nicht
wahr. Doch, gleich noch einmal, grölend laut und vernehmlich. Hitler. Und
gleich hinterher in Richtung Fenster: „Verpiss dich du Fettsack. Hier ist jetzt
Deutschland einmarschiert.“ Der Franzose
verschwindet rasch hinter den Fensterläden. Rundherum betretene Gesichter. Kann
mich im Pulk zwar kaum bewegen, aber trotzdem nicht an mich halten. Dreh mich um und schaue in ein grinsendes, rotes
Gesicht. „Halt dein Maul. Mach halblang.“ Tatsächlich. Er ist still. Pah, sag
noch mal einer, ich sei nicht furchteinflößend.
Endlich scheinen die Ordner vorne zu kapieren, dass hier
grade was kurz vorm Kippen ist. Sie öffnen die Tore. Der Pulk kommt in
Bewegung, es drückt von hinten, wir lehnen uns gegen den Druck, stolpern nach
vorn, kommen ins Laufen, hoffentlich geht das gut, noch ein paar Meter, heey,
langsam, langsam und dann schwappen wir ins Stadion. Keine Kontrolle, kein
nichts. Habe nicht einmal jemandem meine Karte gezeigt. Sie bleibt für den Rest
des Abends unbesehen in meiner Hosentasche.
Was für ein schönes, altmodisches Stadion. Wie so vieles hier aus hellem Sandstein. Rundbögen, kleine Treppenaufgänge, aber keine Zeit zum Schauen, hinein in unseren Block. Wow. Die Eintracht Blocks sind schon fast gefüllt. Das halbe Stadion, eine einzige orangene Fläche. Wir drängeln uns durch, suchen unsere Platze, ah da sind sie ja. Block 21. Die Ränge sind sehr flach. Schalensitze, heute als Stehsitze umfunktioniert. Warum eigentlich? Wenn wir alle unten stehen würden, hätte das doch den gleichen Effekt. Egal, es is wie es, wir stehen lieber unbequem. Unter lautem Jubel schreitet Peter Fischer die Kurve ab. Klatscht. Nimmt den orangenen Schal, das Mützje, die ihm zugeworfen werden. Er geht zurück. In seinem Rücken knallt und dampft es. Fischer zuckt zusammen. Sehe förmlich die Denkblase über seinem Kopf: „Verdaaammt. Menno.“
Noch zehn Minuten bis zum Anpfiff. Wir singen „Im Herzen von
Europa“. Unser Lied schwebt über dem Stadion. Eintrachtschals. Ein
wunderschöner Moment.
Die Mannschaftsaufstellung- Stadionsprecher: Joselu. Wir: Lu
- die Mannschaften laufen ein. Wir
werfen die bereitgelegten Choreobänder. Es rieselt rotundschwarz und silbrig. Anpfiff. Die orangene Wand reckt die
Hände in die Luft, skandiert Gesänge, klatscht rhythmisch. Es ge eh - SG Eintracht Frankfurt. Schwarz weiß rot, das sind unsere Farben - was angesichts der orangenen Kulisse und der türkis farbenen Trikots einer gewissen Ironie nicht entbehrt.
Jetzt sind hier keine einzelnen Adler mehr, es ist eine bis ins Detail durchorganisierte Menge. Was für eine grandiose Inszenierung. Alles wie am Strich gezogen. Ich stehe und schaue aufs Spielfeld. Mir wird kalt und fröstelig ums Herz. Hier stehe ich, im Stadion von Girondins Bordeaux. Da unten spielt meine Eintracht. Europa. Endlich. So lange auf diesen Moment gewartet. Ich müsste schweben, fliegen. Versuche zu fühlen, was ich fühle. Und spüre: Nichts. Stehe stumm und starr, will rufen, kann nicht, will nicht mitsingen, die Arme in die Luft strecken. Sehe diese Wahnsinnskulisse, sehe, was da abgeht, aber ich kann es nicht fühlen. Eintracht. Eintracht, schreit es in mir, und ich fühle mich so fern und vereinzelt wie lange nicht im Stadion. Wir sind nicht hier, um Fußball zu kucken. Wir sind hier, um zu zeigen, dass wir da sind. Schon ok. The lonely crowd.
Jetzt sind hier keine einzelnen Adler mehr, es ist eine bis ins Detail durchorganisierte Menge. Was für eine grandiose Inszenierung. Alles wie am Strich gezogen. Ich stehe und schaue aufs Spielfeld. Mir wird kalt und fröstelig ums Herz. Hier stehe ich, im Stadion von Girondins Bordeaux. Da unten spielt meine Eintracht. Europa. Endlich. So lange auf diesen Moment gewartet. Ich müsste schweben, fliegen. Versuche zu fühlen, was ich fühle. Und spüre: Nichts. Stehe stumm und starr, will rufen, kann nicht, will nicht mitsingen, die Arme in die Luft strecken. Sehe diese Wahnsinnskulisse, sehe, was da abgeht, aber ich kann es nicht fühlen. Eintracht. Eintracht, schreit es in mir, und ich fühle mich so fern und vereinzelt wie lange nicht im Stadion. Wir sind nicht hier, um Fußball zu kucken. Wir sind hier, um zu zeigen, dass wir da sind. Schon ok. The lonely crowd.
Das Spiel ist bescheiden, zumindest so weit ich etwas davon
sehe. Kaum, dass wir mal vors gegnerische Tor kommen. Sebi Jung verhungert auf
rechts. Rode zirkuliert sinnfrei. Freu mich, dass Kempf spielt. Wunderbar, wie
Zambrano ihn absichert, wie Schwegler sich immer mal wieder mit zurückfallen
lässt.
Rosa kapituliert irgendwann. Sie sieht nichts und setzt sich
hin. Ein kleines, zusammengekauertes, aber tapferes Figürchen mit über den Kopf gezogener
Kaputze. Ein grauhaariges Ehepaar – sie mit Eintracht-Bommelmütze, er mit
Eintracht-Schal – tut es ihr gleich. Der alte Herr, sicherlich schon siebzig,
steigt ab und und zu auf seinen Sitz, um einen Blick aufs Spielfeld zu
erhaschen.
Halbzeit. Kine. Michelle. Sabrina. Frank. Birgit. Alle
wollte ich anfunken und treffen. Mein Handy streikt. Daraus wird wohl nichts.
Dann doch noch das Tor. Wie eine Explosion, reiße die Arme
in die Luft, umarme Nicole, fest, ganz fest. Doch noch. Unser Tor. Die
Zentnerlast, die den Jungs da unten vom Herzen gefallen ist, ist bis hier oben
zu hören. Wie in einer Woge wird der Jubelknäuel vom Feld zum Block geschwappt,
jubelnd in Empfang genommen. Die orangene Wand reckt die Arme. Stehe still. Ein
paar Tränen kullern. Wir haben es geschafft.
Rückfahrt in der S-Bahn. Wir stehen eng gequetscht.
Eintrachtler zwischen Girondins. Einzelne Gesichter. Eine junge Frau mit Brille.
Zwei Adler mit orangenen Mützen und schwarzweißen Schals. Stehe neben einem
jungen Mann mit Wuschelkopf, runder Nickelbrille und Girondins-Schal. Wir
grinsen uns an. Er zeigt mit dem Daumen nach oben. Am nächsten Halt zwängt sich
ein Trupp französischer Teenies in die Bahn. Sie kommen offensichtlich von
einer Mottoparty oder einem Flashmob, tragen gestreifte Bademäntel, Pyjamas und
Schlafmützen. This old world
is a funny place to be. (Woody Guthrie)
Ich lechze nach einem Bier. Kurz vor zwölf. Das Bistro neben
unserem Hotel hat bereits geschlossen.
Das glaub ich jetzt nicht. Im Bahnhof ziehen wir uns ein Wasser, eine Cola,
eine Orangina für die Nacht. Nicole, Zoe und Rosa drängt es ins Hotel, allein
will ich jetzt auch nicht mehr losziehen und so bin ich wahrscheinlich der
einzige Adler in ganz Bordeaux, der an diesem Tag keinen Tropfen Alkohol
getrunken hat. Sitze auf meinem Hotelbett, schaue auf den Bahnhofsvorplatz, der
eben noch leer war und sich merkwürdiger Weise immer mehr füllt. Von fern
Eintracht-Gesänge. Knabbere an meinem letzten Proviantbrot. Bin müde und froh
und irgendwie auch ein bisschen wehmütig und nachdenklich, alles durcheinander. Hannover on my mind.
Packe mich ins
Bett. Die Nacht ist kalt, die Bettdecke steif, türme alles, was ich an
Wolldecken finden kann, oben drauf. Ziehe mir eine Strumpfhose, eine Jacke an.
Friere immer noch. Bon nuit. Schlafe.
Überstürzter Aufbruch am Morgen. Muss am Samstag und
Sonntag arbeiten und hatte noch am Mittwoch nach einer früheren
Rückfahrtmöglichkeit gesucht, aber inzwischen die Hoffnung aufgegeben. Nix da – Birgit und die Xing-Adler machen es
möglich. Um halb acht klingelt mein Handy, dass – Zoë sei Dank – wieder
funktioniert. Bin noch im Halbschlaf. Wie was? Birgit ist dran. Los, ab unter die Dusche. Du kannst mit uns mit fahren. Wir wollen los. Arrgs, hilfe, wie
was, cool, aber, hey, doch na klar, aufspring, renn, hechel, pack.
Achduschreck, mein Portemonnaie is weg. Hilfe. Nein, da ist es ja. Wie komme
ich zum Treffpunkt am anderen Ende von Bordeaux. Taxis erst in einer
dreiviertel Stunde. Die rettende SMS: Wir kommen und holen dich. Bah, Mensch, echt. Wahnsinn. Um
kurz vor halb neun stehe ich vor dem Hotel. Rauchende Adler. Ei guude wie? Und
da kommt auch schon der Mini-Bus der Xing-Adler. Hallo, hallo, ich sitze. Wir fahren los, über
die Garonne-Brücke. Au revoir, Bordeaux.
Eine bunt gemischte Truppe, Björn und Katharina, Mark,
Michael hat seinen Sohn Niklas dabei. Sogar ein befreundeter Clubberer, Olli,
ist an Bord und natürlich Birgit, die ich jetzt endlich auch persönlich kennen
lerne und doch irgendwie längst kenne. Witzig, cool. Kein Fremdeln,
Eintracht verbindet. So viel zu schwätzen und
zu erzählen. So viel erlebt. Mark und Michael haben eine Kerze in der
Kathedrale angezündet. Aha, deshalb ist das Tor gestern doch noch gefallen. Die
Sonne scheint. Die Landschaft ist schneebedeckt. Das Massif Centrale leuchtet
im Sonnenschein.
Gesprächsweise sind wir inzwischen bei Rostock,
Kaiserslautern und Reutlingen angelangt, bei Uwe Bein, Jay-Jay Okocha und Jörg
Berger, trotzdem führt irgendwann am frühen Nachmittag kein Weg an der
Erkenntnis vorbei: Wir haben uns vergurkt. St. Etienne und Lyon sind nicht ganz
unsere Richtung. Alla, macht nix. Dann haben wir ein bisschen länger was von
unserer Tour de France. Oder ist das da etwa schon der schiefe Turm von Pisa.
Wir könnten vielleicht doch noch über Paris fahren. Oder nochmal zurück nach
Bordeaux? Dann könnte Michael auch noch seinen Döner bekommen.
Es dämmert. Es wird dunkel. Wir passieren eine Mautstation. Noch eine. Noch eine. Zwischendurch halten wir an Raststätten. Raucherpause, versorgen uns mit Getränken und Nahrung. Man weiß ja nie. An einem Parkplatz entdecken wir ein winziges schwarzundweißes Kätzchen. Das muss jemand ausgesetzt haben. Es ist tiefschwarze Nacht. Niklas hat eine Taschenlampe dabei. Wir wollen sie aufstöbern, mitnehmen, miezmiez, aber sie taucht nicht wieder auf. Schweren Herzens geben wir die Suche auf. Weiter, weiter. Der nächste Halt, die nächste Raststätte. Wohin wir auch kommen, wir sind immer noch in Frankreich. Wie in einer endlosen Zeitschleife. Irgendwann geht das Zeitgefühl verloren. Wo sind wir und warum. Welcher Tag ist heute. Die Stimmung wird immer ausgelassener. Vielleicht sollten wir gleich weiterfahren nach Turin?
Hölderlin ist vor über 200 Jahren zu Fuß und in der Kutsche von Frankfurt nach Bordeaux gereist, um dort eine Stelle als Hauslehrer anzutreten und seine
Liebe zur Frankfurter Bankiersgattin Suzette Gontard zu vergessen. Ein halbes Jahr später tauchte er, vom Wahnsinn
umnebelt, wieder im Schwäbischen auf. Ganz so ergeht es uns nicht. Um kurz nach
Zehn haben wir unseren ersten Zwischenstopp in Bruchsal erreicht. McDo lockt
freundlich, danach verteilen wir uns sternförmig. Um 11 sind wir in Stockstadt bei Marc – umsteigen bitte – weiter geht es nach Frankfurt, wo wir Birgit absetzen. Dicke
Umarmung. Menschenskinners. Was für eine witzige, schräge Art sich kennen zu
lernen. Wie es der Zufall so will, wohnt Micha - wie ich – im Rheinhessischen Hinterland und
so lande ich nachts um Eins, knapp 48 Stunden nachdem ich aufgebrochen bin,
direkt vor meiner Haustür. Danke, danke!
Die Nacht ist klar, ein überwältigender Sternenhimmel spannt
sich über die Welt. Vor der Haustür erwartet mich mein Mit-Adler und drinnen ein
kaltes Bier. Endlich. Bin müde bis zum
Anschlag und kann trotzdem nicht aufhören zu erzählen. Stell dir vor.. So viele einzelne Momente, Erlebnisse, Gesichter, Gedanken und Gefühle. Bin froh und weiß ganz sicher, dass es richtig war, dabei gewesen zu sein. Etwas Wichtiges ist mir nebenbei klar geworden. Wir sind viele - und viele sind zusammen stark, vor allem dann, wenn jeder dabei auch noch er selbst bleiben kann.
Allerbesten Dank, liebe Kerstin, jetzt kann ich die beeindruckenden Fotos und Videos, die im Forum verlinkt sind, um einiges plastischer sehen. Und sollte le pauvre Holterling tatsächlich je wahnsinnig gewesen sein, dann war sein Wahnsinn kristallklar, verglichen mit unserer ... hm, was war nochmal das Gegenteil von Wahnsinn? Bestens grüßend - ak aka Matthias
AntwortenLöschenDanke für deinen schönen Bericht Kerstin. Kleine Berichtigung: Die Kerze in der Kathedrale haben Micha und ich angezündet - und es hat geholfen. ;-) Das nächste Mal gehts ohne Riss im Raum-Zeit-Kontinuum nach Turin...oder wohin auch immer. ;-) Viele Grüße von einem der Fahrer. Mark :-)
AntwortenLöschenLieber Matthias, selbstverständlich war Hölderlin nicht wahnsinnig. Oder vielleicht doch. Aber egal - lieber so wahnsinnig als anders "normal".
AntwortenLöschenHeeeey Mark, das ist aber nett - freu mich sehr, dass du hier nicht nur vorbeigeschaut, sondern auch einen Kommentar da gelassen hast. Die Sache mit der Kerze wird sofort korrigiert - Ehre, wem Ehre gebührt ,-) Micha hat schon angekündigt, dass er mir auch noch das Foto schickt. Ja, Turin, Turin, Turin wir fahren nach.... Aber erstmal gewinnen wir gegen Sandhausen und Hoffenheim ,-)
Einträchtlich, K.
Ja, so war es, genau so. Gerade zum zweiten Mal mit Genuss gelesen und mich mal wieder, wie so häufig hier, gefreut über den wunderbaren Ton.
AntwortenLöschenIm biblischen Alter meine erste Auslandsauswärtstour, gelungen, ob mit oder ohne Umwege.
Ich freu mich auf viele weitere Begegnungen, schräge oder rechtwinklige, egal.
Und nach meinem gestrigen Ausflug nach HAN jetzt erst recht:
EINTRACHT. WIR. IMMER. ALLE.
Die Sarroise
Wann hast du das geschrieben, fleißige Kerstin? Ich hatte zwar drauf gehofft, aber dass du es trotz Arbeitsstreß und Restmüdigkeit schaffst, so einen schönen Bericht zu schreiben, das ist klasse!
AntwortenLöschenDiese Reise werden wir nicht vergessen, wir haben unsere persönliche kleine Spur hinterlassen, uns in Bordeaux auf unsere Art verewigt. Ich habe ja immer Heimspiel in Frankreich, deswegen war das für mich besonders wichtig. Als Eintrachtfan in meiner zweiten Heimat ein Europapokalspiel miterleben, das musste einfach sein. Und irgendwie ist schon auch Stolz dabei, dass wir Frankfurter so eine Kulisse aufbieten können.
Bin froh, dass wir diese Reise gemeinsam erlebt haben.
Nur die Sarroise habe ich immer noch nicht kennengelernt...
A plus!
Nicole
Ooch, da bin ich inzwischen ganz zuversichtlich. Muss nur mal meinen Trampelpfad (S-Bahn) verlassen und mit der Straßenbahn anrollen, dann wird das was :-)
LöschenDanke für diesen wundervollen, emotionalen und amüsanten Bericht. Durch Nicole und Zoe hab ich schon ein kleinen Einblick bekommen, aber Dein Bericht hier ist einfach der Hammer.
AntwortenLöschenIch selber bin nur noch selten im Stadion, aber das hat leider ganz private Gründe und um so schöner ist es, auf diese Weise die Reise nach Bordeaux mitzuerleben :)
Liebe Grüße von Katja, den Adler im Herzen :)
Liebe Katja,
Löschenfreu mich so sehr, dich hier zu lesen. Du warst mit deinem Herzen, aber auch in unseren Gedanken dabei. Nicole hat mir auf der Fahrt von Frankfurt nach Paris von dir, von euch, von Amelie, von Schalke erzählt und wir haben ganz fest an euch gedacht - ihr wart also mit dabei, ganz sicher! Unbekannterweise eine ganz feste Umarmung und herzliche Adlergrüße, Kerstin
Wir hätten wohl irgendwie tauschen sollen....??
AntwortenLöschenIch erprobt von Giesheimern Auswärtsfahrten fuhr im FuFa-Bus für Rentner... **lach**
Und hatte Angst vor Langeweile.
Sooo schlimm war es dann doch nicht, aber es gab weder Gesang noch (übermäßigen) Alkohol.
Doch ebbes Gesang gab es, aber wirklich mäßig...
Und ich, die anfänglich auch sehr skeptisch war angesichts der orangefarbenen "Verkleidung" fand das Ganze dann doch sehr schön.
Bzw. ein "Ganzes"...
Jeder irgendwie mit einer Mütze in Schwarz wäre längst nicht so aufgefallen, finde ich.
Und ich war auch gleich euphorisiert im Stadion sowie sicher, dass wir gewinnen.
Letzteres ist meinem eigenen Eintracht-Optimusmus geschuldet und ersteres wohl dem Umstand, dass ich, als der Marsch losging und das dann wohl doch kleine Chaos, damit beschäftigt war meinen Senf und meinen Pineau ins Hotel zu schleppen und so den Marsch verpasst habe.
Aber es war einfach "geil", wie gestern auf der FuFa-Versammlung alle Nasse lang auch vom Vorstand Axel Hellmann, betont, es war geil mit dem "geilsten Verein der Welt" unterwegs zu sein...
wib
Oh, bitte nehmt ein "s" bei der Nase weg...
AntwortenLöschenwib
"...Wir sind nicht hier, um Fußball zu kucken. Wir sind hier, um zu zeigen, dass wir da sind..."
AntwortenLöschenDas trifft es ganz gut, ich musste mich auch ab und an zwingen, um dem Spiel zu folgen. Das ist es wohl auch ungefähr, was Herr Bruchhagen in der Ansprache zu seinem 10-jährigen meinte: Wir dürfen nicht vergessen. das das Spiel im Mittelpunkt steht... Bei den vielen Stunden, die wir abdienen, darf aber auch eine solche Feierstunden mal dabei sein. Dieses Spiel hat uns die Mannschaft erstritten, aber wir hatten es uns verdient.
Ich bin immer da, um Fußball zu gucken, immer....
Löschenwib
Als ich das erste Mal zur Eintracht ging, stand das Spiel nicht nur im Mittelpunkt - es gab nichts anderes. Die Bratwurst vor dem Spiel einmal ausgenommen.
AntwortenLöschenUnd für mich ist das noch immer so. Das Spiel, das Spiel und nicht anderes als das Spiel. Und die Bratwurst. Heute allerdings erst nach dem Spiel und nicht mehr davor. :-)
Ich danke dir für den kurzweiligen und interessanten Reise- und Erlebnisbericht, Kerstin. Beim Lesen schwankte ich zwischen "gut, dass ich nicht dabei war" und "da wäre ich gerne dabei gewesen".
LGvK
sehr schön, crashkurs frankreich in achtundvierzg stunden, inklusive ausgesetzter katzen. und owladler hat recht, manchmal, aber nur manchmal ist fußball im rahmen solch einer reise nicht die alleinige hauptsache.
AntwortenLöschenviele grüße
beve
@Sarroise: So soll es sein, von mir aus auch rund :) Jetzt erst recht. Und heute Abend fangen wir damit an!
AntwortenLöschen@Nicole: Heeeey....Bin auch sehr froh, dass wir zusammen unterwegs waren – ganz sicher nicht das letzte Mal :) Es war richtig, richtig schön mit euch. Fast sind wir ja schon ein eingespieltes Team - und immer die Extremtouren *g.. Und der Text... ja, irgendwie musste das sein, dann halt in Nachtschicht ,-) Du solltest in deinem nächsten Leben übrigens unbedingt Französin werden, aber nur, wenn du gleichzeitig Adler bleibst :)
@wib: Vor ein paar Wochen hätte ich auch gesagt – yep, klar, kein Problem, da gewinnen wir. Am Donnerstag war ich mir da nicht sicher, nach der ersten Halbzeit zwei Mal nicht. Was e Glück, dass das Tor dann noch fiel. Nase. Nase. Nase *g. Echt – Hellmann fand es auch am Montag noch geilgeilgeil, obwohl er da schon wusste, was auf die Eintracht zukommt? Ui
.
@Kid: Ich hatte viele wunderbare, witzige, herzerwärmende Erlebnisse und Begegnungen und mittendrin auch ein paar sehr merkwürdige, fast schon beklemmende Momente. Fußball war wenig und Eintracht nicht überall. Am Ende bin ich trotzdem einfach nur froh, dass ich dort und dabei war.
@Owladler: Jaaaaaa. Aber ,-)
@Beve: Heimspiel für Nicole – Französisch Crash-Kurs für mich ,-) Das Kätzchen hätte ich sehr gerne mitgenommen, es wird die Nacht wohl nicht überlebt haben.
Als ich als kleines Mädchen das erste Mal im Waldstadion war, war ich überwältigt davon, dass da so viele, vollkommen verschiedene Menschen waren, alle wegen der Eintracht und habe in mein Tagebuch so was wie „Was für ein Erlebnis, unter so vielen fußballbegeisterten Menschen ein Spiel der Eintracht zu sehen.“ geschrieben. Als Studi im F-Block war es cool, dass da so viele unterschiedliche Menschen waren, jeder anders, alle zusammen Eintrachtler – Rentner, Knodderer, Kids, Studenten, Schüler, Ausländer, immer auch ein paar Gästefans. Fand die Orange-Kaos-Aktion vorher überflüssig – war skeptisch, aber hey, von mir aus, ohne mich, aber schon ok. Hinterher macht es mich nachdenklich: Wenn wir unsere Farben tragen, sind wir als Adler unübersehbar, aber wir bleiben erkennbar auch Einzelne. Kappen, Bommelmützen, schwarz, weiß, rotundschwarz, Trikots, neue, alte, unterschiedlichste Shirts, mancher nur mit Eintracht-Schal oder Handschuhen. Im Stadion in Bordeaux war – nach meinem Erleben - in orange alles eins, keine Einzelnen mehr, nur eine anonyme orangene Masse, in der wir alle nebeneinander standen, jeder ganz allein. Ich war selbst überrascht wie mir das im Stadion regelrecht in die Knochen gefahren ist, wie ein Hammer, es hat mich fast erdrückt. Als seien wir als wilder bunter Haufen durch eine Schleuse gegangen und hinterher als uniforme Orangene rausgekommen – zum Glück hat das auch umgekehrt funktioniert, hinterher waren wir wieder der bunte Haufen, der wir sind.
Freu mich über sehr über eure Anmerkungen und Kommentare – einträchtliche Grüße in alle Richtungen! K.
Eintauchen & dabei sein hat sich niemals besser angefühlt, liebe Kerstin! Und danke ist eigentlich ein zu schwaches Wort für diese Mitnahme. Ein grandioser Bericht. Vielen, vielen Dank!
AntwortenLöschenViele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.
eranOinpi Cecilia Castillo https://marketplace.visualstudio.com/items?itemName=4scomipenra.Descargar-Children-Of-The-Eclipse-gratuita-2021
AntwortenLöschentrepinonon